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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

928-930

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter

Titel/Untertitel:

Samuel. 1 Samuel 27–2 Samuel 8.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. XII, 762 S. = Biblischer Kommentar Altes Testament, VIII/3. Geb. EUR 150,00. ISBN 9783788733650.

Rezensent:

Georg Hentschel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Dietrich, Walter: Samuel. 2 Samuel 9–14. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. IX, 460 S. m. 18 Abb. = Biblischer Kommentar Altes Testament, VIII/4. Geb. EUR 100,00. 9783525503539.


Walter Dietrich hat zwei weitere Bände seines umfangreichen Kommentars zu den Samuelbüchern vorgelegt (2019 Teilband 3 und 2021 Teilband 4). Der erste der beiden Bände behandelt Davids Aufstieg von einem Vasall der Philister zum König der Doppelmonarchie Juda-Israel (VII). Dabei ergeben sich drei Unterabschnitte: 1. Sauls Ende und Davids Überleben (1Sam 27–2 Sam 1). 2. Davids Aufstieg zum König (1Sam 2,1–5,16) und 3. Davids Regierung (2Sam 5,17–8,18). Der Teilband 4 sollte ursprünglich auch den Aufstand Abschaloms einschließen (vgl. Teilband 4, V), aber er beschränkt sich auf die vorangehenden Teile: 1. den Platz des letzten Nachkommens Sauls an der königlichen Tafel (2Sam 9), 2. den Kampf gegen Ammon und den Fehltritt des Königs (2Sam 10–12) sowie 3. den Fehltritt Ammons, seine Ermordung durch Abschalom und dessen Rückkehr aus dem Exil.

Der Kommentar ist recht umfangreich, aber auch so angelegt, dass man das Kleingedruckte einer späteren Lektüre überlassen kann. Die ausführlichen Bemerkungen zum hebräischen Text und den alten Übersetzungen erweisen sich als äußerst hilfreich.

D. legt Wert darauf, die Exegese mit der »Form« zu beginnen, d. h. mit einer synchronen Analyse. D. achtet u. a. sorgfältig auf den Unterschied von Rede und Erzählung sowie auf chiastische Strukturen. Wortfelder lassen wie jenes in 2Sam 7 »erahnen, dass in diesem Kapitel Grundlegend-Bedeutsames verhandelt wird« (631). Die Entstehung eines Textes behandelt D. unter der Rubrik »Ort«. Er kann z. B. in 2Kön 1,1–16 auf eine Erweiterung hinweisen. Während David und seine Männer nach der Nachricht über den Tod Sauls bis zum Abend klagen, weinen und fasten (V. 12), lässt David den Amalekiter, der nach eigener Aussage Saul getötet hat, unmittelbar nach dessen Bericht exekutieren (V. 13–16). Erst nach der diachronen Analyse äußert sich D. zu den einzelnen Versen. Es ist aber dem Leser überlassen, ob er sich nicht zuerst den einzelnen Versen widmet, um die vorangestellte Analyse des Textes besser zu verstehen.

Es kommt in jedem Fall darauf an, die gegenwärtige Struktur zu verstehen. Nachdem Saul und David viel miteinander zu tun hatten, ändert sich das in 1Sam 27 bis 1Sam 31. Sie handeln nicht mehr mit- oder nebeneinander. In der einen Szenenfolge ist David der Hauptakteur (1Sam 27,1–28,2; 29–30), in der anderen ist es Saul (1Sam 28,3–25; 31). Wer 1Sam 28 gelesen hat, möchte wissen, was mit Saul tatsächlich geschehen ist, »erfährt es aber erst in 1 Sam 31« (Teilband 3, 1). Die Handlung wird »gleichsam auf zwei Gleisen geführt« (2). D. weist darauf hin, dass Davids Schritte überaus überraschend sind. Sein Entschluss, sich dem Philister Achisch zu unterwerfen, »erscheint als höchst gewagt, als geradezu widersinnig, aber eben unausweichlich und erstaunlicherweise erfolgreich« (12). Es wurde peinlich »darauf geachtet, David niemals als Feind Sauls erscheinen zu lassen«. Aber um so mehr darf man fragen: »Wie konnte das zusammengehen: die Philister Sauls Feinde, David nie der Feind Sauls und David im Dienst der Philister?« (14)

D. äußert sich auch mit großem Respekt über bisherige diachrone Thesen. Die Arbeit von Leonhard Rost »Überlieferung von der Thronnachfolge Davids«. sei durch Martin Noth und Gerhard von Rad »fast unangreifbar geworden« und habe »in der Folge als Lieblings- und Wunderkind der Exegese für Jahrzehnte den Diskurs über die Samuelbücher« bestimmt (Teilband 4, 7). »Rosts These ist so einfach wie bestechend, seine Beweisführung so sorgfältig wie gewinnend.« (8) Es geht um die Frage: »Wer wird sitzen auf Davids Thron?« Amnon und Abschalom scheiden nacheinander aus. Am Ende gewinnt Salomo die Auseinandersetzung mit Adonija. D. kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass sich »Rosts Textabgrenzung und auch seine Themenbestimmung kaum halten« lassen (Teilband 11) Die »Thronfolgegeschichte« ist nicht so einheitlich und geschlossen, wie Rost meinte. Sie lässt sich »nicht klar vom Kontext« abgrenzen. Die wichtige Personenkonstella- tion – David, Batscheba, Salomo und Joab – findet sich »in zwei weit auseinanderliegenden Textbereichen […] in 2 Sam 11–12 und 1 Kön 1–2«. Die dazwischen liegende Amnon-Abschalom-Novelle (2Sam 13–19) scheint eine alte Novelle gewesen zu sein. Sie erzählt, wie die ältesten Söhne Davids vorzeitig ums Leben kommen (12).

D. lehnt also die Suche nach älteren Überlieferungen keinesfalls ab. Recht alt ist seiner Überzeugung nach der »Erzählkranz vom Aufstieg und Niedergang der Sauliden« (Teilband 3, 314). Zu ihr gehört die Salbung Sauls durch Samuel (1Sam 9,1–10,16) und die anfänglichen Erfolge (1Sam 13 f.). Als ein Kampf mit den Philistern droht, versucht Saul, Auskunft vom bereits verstorbenen Samuel zu erhalten (1Sam 28). Dazu gehört auch die Niederlage auf dem Berg Gilboa (173).

Alt und »historisch zuverlässig« ist für D. auch der sog. »Freibeuter-Erzählkranz«. Er setzt mit der Flucht aus Gibea (1Sam 19) ein und endet mit der Niederlassung in Jerusalem (2Sam 5). Der Urheber des Erzählkranzes könnte sogar Zugriff auf ein königliches Archiv gehabt haben (15). Die kurze Zeit von einem Jahr und vier Monaten, die sich David in Ziklag aufhielt, sollte zeigen: »Davids Aufenthalt im Feindesland war nur von begrenzter Dauer.« Zur Freibeuter-Erzählung gehörte auch ein Rückblick auf Sauls Niederlage auf Gilboa (2Sam 1,1–16).

Die vorhandenen Erzählungen wurden etwa um 700 v. Chr. durch den Höfischen Erzähler geprägt. Er arrangiert den überlieferten Stoff so, »dass der Aufenthalt bei den Philistern David von dem Ort, an dem Sauls Schicksal sich erfüllte, möglichst weit abrückt« (Teilband 3, 15). Der Besuch Sauls bei der Totenbeschwörerin wird überarbeitet. Ein wahrhaft allwissender Erzähler gibt den Lesern »Einblick […] in die innersten Beweggründe seiner Hauptfigur« (Teilband 3, 51). Saul hat sich mit den Priestern »überworfen« und er klagt darüber, dass Gott ihn verlassen hat (1Sam 28,15). Im Gespräch mit den Philisterfürsten (29,2b–10) bringt der Höfische Erzähler zum Ausdruck, dass David »mit der folgenden Niederlage Israels und dem Tod Sauls und seiner Söhne nichts mehr zu tun hatte« (104). Als David nach Ziklag zurückkehrte, befragte er das Efod, ob er die Räuberbande verfolgen solle (30,6–8). Auf den Höfischen Erzähler geht auch die Frage zurück, die David dem Amalekiter stellt: Warum habe er sich nicht gefürchtet, seine Hand auszustrecken und den Gesalbten des Herrn umzubringen (2Sam 1,14)? Der Höfische Erzähler lässt David Kontakt zu den Bewohnern von Jabesch in Gilead aufnehmen (2Sam 2,4b–7), weil sie Saul und seine Söhne in Jabesch begraben haben (318). Die Spuren des Höfischen Er- zählers lassen sich natürlich weiter verfolgen. Die positive Ein- stellung gegenüber David und seinem Haus lässt sich m. E. nicht leugnen.

Eine wohlwollende Einstellung gegenüber dem Haus David findet sich auch beim dtr Historiker (DtrH). Das lässt sich u. a. in den Worten Abners vor den Ältesten Israels (2Sam 3,17–19) und an der Verheißung Jhwhs (7,16) erkennen. In den jüngeren dtr Äußerungen tritt dieser Optimismus wieder zurück.

D. versteht es ohne Zweifel, uns in die biblische Welt zu versetzen. Davids Weg zur Macht wird mit all ihren Facetten vorgestellt. David unterwirft sich nicht nur einem Fürsten der Philister kurz bevor Saul im Kampf gegen die Philister fällt, sondern er lebt mit seinen Männern von Massakern an der Zivilbevölkerung. D. hält das für verwerflich und wagt das Urteil: »Einen Warlord vom Schlage Davids würde heute der Internationale Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen in Den Haag suchen.« (Teilband 3, 25) »Man hat sich heute ohne Wenn und Aber von solch blutrünstiger Gewalt zu distanzieren, wenn sie solche Gewalt propagierten und die Täter exkulpierten. Doch eben das tut 1Sam 27 glücklicherweise nicht.« (26)

Der Kommentar zeichnet sich dadurch aus, dass D. viele Fragen stellt und dadurch das Interesse des Lesers weckt. So weist er z. B. 1Sam 28 auf viele Lücken und Ungereimtheiten hin:

»Wann und wie ist Saul gegen die Totenbeschwörerin im Land vorgegangen (3)? Wie können die Höflinge Sauls danach noch eine Totenbeschwörerin ausfindig machen (7)? Warum verkleidet sich der König und geht des Nachts nach En–Dor (8)? Wie kann die Frau dem fremden Mann glauben, ihr verbotenes Tun werde folgenlos bleiben (10)? Wie bewirkt sie dann das Heraufkommen Samuels (12)? Warum erkennt sie Saul in dem Augenblick, da sie Samuel sieht (12)? Warum nennt sie die Erscheinung ›Götterwesen‹ (im Plural, 13)? Wie kann Saul den Erschienenen identifizieren, obwohl er nur hört, er sei alt und trage einen Mantel (14)? Warum wiederholt Samuel in seiner Rede zuerst früher schon Gesagtes, um erst danach in die Zukunft zu schauen (16–19)?« (Teilband 3, 42)

D. scheut sich auch sonst nicht, eine Fülle von Fragen zu stellen, die die jeweilige Situation beleuchten. Am Ende eines Kapitels weist er auch gern auf die Wirkung hin, die der biblische Text im Bereich der Kultur ausgelöst hat. Der Blick reicht von Flavius Josephus über Qumran bis zum Roman von Stefan Heym.