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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

917-919

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lehnert, Christian

Titel/Untertitel:

opus 8. Im Flechtwerk.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2022. 122 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783518430583.

Rezensent:

Michael Trowitzsch

1. Zweierlei, immer aufs Neue in Erinnerung zu rufen: Immer noch mehr hat der Autor bedacht, als der Leser erfasst; immer noch mehr versteht der Leser, als der Autor gemeint hat.

2. Die Gedichte brauchen den sehr langsam gewordenen Leser. Ein Operieren mit außerordentlich feinen Gewichten, scharfe Beobachtung, Gedankenreichtum Wort für Wort, die Originalität der Metaphorik, Hochempfindlichkeit und Intensität ... weisen ab oder laden ein.

3. An die »Beschreibung eines Dorfes« der Marie Luise Kaschnitz lässt dieses Buch denken. Einen »letzten Aufruf für die Libellen« und »für die Schmetterlinge« gibt es für dieses Dorf, und gewünscht wird, »entlassen zu werden aus der furchtbaren Beschleunigung« Ähnlich hier bei Lehnert: Langsamkeit auch hier, bewundernswert geduldige Betrachtung von »Pflanzen und Tieren/Mikroben und Steinen in ihren Erscheinungen« (5). Aber kein Appell, kein Aufruf, sondern nur Blicke, Fragen und Wechselgespräch mit Dingen und Situationen.

4. Ein Beispiel: das letzte Gedicht. Ich skizziere es grob. Der Kontrast: auf der linken Seite zwei Zeilen Goldglänzender Laufkäfer (116). Die Kreatur kennt ihre Grenzen und Gefahren, »weiß Bescheid, geht ihren Weg. Nicht so – rechte Seite (117) – der Mensch (Überschrift: Vor dem Unwetter; die Bedrohung des Lebens auf der Erde). Wohin soll er fliehen? Zu den vergänglichen Werken der Schöpfung. Er kann vielleicht einwilligen in die Vergänglichkeit? Er soll das Geschaffene aber nicht »stören«, zerstören, entstellen, vielmehr ihm zuhören. Er sieht sich dann, am Vorabend einer großen Krise, nach dem Verlässlichen gefragt. Und vielleicht eröffnet sich der abhanden gekommene Lebensweg erneut. Ein Fragezeichen am Schluss des Gedichts, am Schluss des ganzen Gedichtzyklus. Wohin öffnet er sich?

Dorthin / schneller / wo die wilden Möhren

Welken / wo das Lilienlaub im Moor

Zerfällt / und summend dringt Geröll hervor /

Und besser ist es / nichts im Dunst zu stören /

Zu lauschen / was es fragt / gereiztes Land:

Was ist der Sinn / der dich ins Sichre führt?

Wenn nebelblind du doch die Richtung spürst?

Derselbe Pfad taucht auf / wo er verschwand?

5. »Im Flechtwerk«, heißt der Untertitel – jemand befindet sich darin und schaut sich um. Im Flechtwerk der Schöpfung, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, der Pflanzen, der Tiere, der Phänomene, der Gaben Gottes, der Gabe des christlichen Glaubens, der Zerrissenheit des Lebens. Titel der Gedichte (eine kleine Auswahl): Wiesenweihe, Sommerlinde, Glühwürmchen, Königskerze, Moos, Graugänse etc. Steilküste, Aussaat, Schwelbrand, Umgraben, An der Grenze etc. Fließendes Licht, Die Nacht ist vorgedrungen, Zimzum, Der Glaube, An der Lethe etc.

6. Die in den Gedichten sprechende Stimme (durchaus immer wieder ein Ich) ist selber ein Flechtwerk – das des hochkonzentrierten, suchenden, berührten, angefassten, angefochtenen Menschen.

7. Siebenmal sieben Gedichtpaare, vorangestellt jedem Kapitel ein Satz oder mehrere Sätze (Jacob Böhme, Meister Eckhart, Johann Georg Hamann, Verse aus Daniel 12, aus dem Buch Sohar der Kabbala). Zwei Welten, manchmal Gegenwelten, links, rechts. Jeweils rechts auf der Seite ein kurzes Gedicht, ein Kristall, sechs bis zwölf Zeilen, keine feste Metrik, fast immer gereimt. Links auf der Seite jeweils zwei Zeilen, barocke Versform (Alexandriner, Concetto), im Stil etwa von Angelus Silesius, spruchähnlich, scheinbar einfach. Eine Fülle von Anspielungen: Zimzum, Eichendorff, Jochen Klepper, Mechthild von Magdeburg u. a.

8. Womöglich kann man die meisten dieser Gedichte (wenige Ausnahmen) als bescheidene lyrische Bewegungen innerhalb von Hiob 38–41 verstehen. Sie schreiben sich ein in einen biblischen Text. Wie in Obhut genommen von ihm, unter seinem Schutz, wagen sie sich an unbestimmte Orte, an überraschende Blickpunkte, in nie gesehene Hinsichten. Dort wie hier: das weit ausgreifende Rätsel von Natur und Schöpfung. Hiob 38–41 gibt das Gesichtsfeld vor; die Gedichte möchten noch einmal näher hinschauen, gehen dann vielfach ins Detail, wissen von der Unerschöpflichkeit der Welt, auch von unendlich viel Unerkennbarem, greifen nur dies oder das heraus.

9. Hiob: Gott ruft auf, er bringt für den geschlagenen Mann in der Asche zahllose Bilder des Geschaffenen vor Augen, alles zielt auf Unermesslichkeit, alles ist erschaffen aus lauter Nichts, im Grunde aber »aus lauter göttlicher Güte und Barmherzigkeit«. Der Blick gewinnt eine unermessliche Weite. In den großen Bereich des ebenso Vertrauten wie auch Unerklärlichen gehört dann auch der arme Hiob mit seinem Schicksal hinein. Das Unverständliche in seiner Existenz sieht sich überboten. Der Schöpfer ist gnädiger, als der begrenzte menschliche Blick jemals erfassen kann. Gott bittet um Vertrauen. Hiob kann mit ihm Geduld haben. Seine Seele wird gestillt. Jak 5,11 spricht von Hiobs Geduld.

10. Lehnerts Gedichte fügen sich ein, blicken auf ihre Weise in die Schöpfungstiefe, schreiben gleichsam den Hiobtext ins Einzelne fort, strecken sich nach ihm aus. Jedes Gedicht folgt einer scheinbaren Vertrautheit oder Alltäglichkeit oder auch einer bemerkenswerten Absonderlichkeit, geht einem kleinen Schöpfungswurf nach (von dem man vielleicht noch nie gehört hat; Plecotus auritus, das Braune Langohr, eine Fledermausart: 104), nimmt eine Schöpfungsgedanken auf, der, wie alle seinesgleichen, nicht vergebens sein kann und darum jetzt, beispielshalber, bedacht wird. Wie bei Hiob so auch hier: die Unerschöpflichkeit und vor allem eine letzte Unerklärlichkeit, eine spezifische Unabhängigkeit der Schöpfung dem Menschen gegenüber, eine ganz eigene Freiheit. Vertraut, vermeintlich längst gekannt, aber auch unheimlich, fremd, bedenklich, erschreckend. Das Erschaffene, so zeigt es sich, fragt den Menschen nicht nach seinen Bewertungen, seiner Zustimmung, seinem Beifall. Es redet in Eigenmacht (»undeutbar« die »wuchernden Sumpfkräuter«; 65), in einem ihm innewohnenden Eigensinn (wenn der Erlenzweig »nachwippt«, sobald die Bachstelze aufgeflogen ist; 24), in konkretester Eigenwilligkeit (bis hin zum Schnee, der erst »im Dämmern zu verstehen« ist; 73). Das Wahrgenommene bleibt, bei allem vorläufigen Verstehen, ein im Grunde rätselhaftes Gegenüber.

11. Einer Reduktion von Natur und Schöpfung zu einem menschlichen Dispositions- und Wertungsraum stellt sich hier ein entschiedenes Sein-Lassen entgegen, Anerkennung und Würdigung, Staunen, Teilnahme, Zuneigung. »Artensterben«? Für alles Geschaffene gilt ja: »Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer.« (Spr 14,31) Das Geheimnis der geringen Dinge, Pflanzen, Phänomenen [...] soll gewahrt werden, ihnen soll eine Art von Gerechtigkeit widerfahren, indem sie von den Gedichten daraufhin befragt werden, was es mit ihnen auf sich hat und was in ihnen vorgeht. Sie fragen aber auch ihrerseits.

12. Es muss auch nicht alles verstanden oder gedeutet oder bewertet werden. Umso weniger, kann man schließen, lässt sich das menschliche Leben wirklich aufschlüsseln. Der sterbliche Mensch kann auch Verworrenes oder Unverständliches oder Sinnwidriges stehenlassen, im Vertrauen sich dareinfinden. »Wir verstehen die Welt deshalb nicht, weil das nicht unsere Aufgabe auf Erden ist.« (Imre Kertész) Der Tod ist nah in vielen der Gedichte, die Vergänglichkeit des Geschaffenen; viele, als wären sie hindurchgegangen durch Traurigkeiten, haben etwas Spätes und Wehmütiges.

13. Eines überlassen diese Gedichte allerdings dem biblischen Text: Sie reden nicht direkt und explizit vom Schöpfer. Im Hiobbuch: Gott verleiht der Schöpfung Sprache, da redet sie insgeheim von ihm, von seiner wunderbaren vertrauenswürdigen Allmacht. Bei Lehnert geschieht das eher implizit. Nur zweimal in Anrede (Großbuchstaben): Weil Gott mich ansieht, darf ich leben. »Daß DU mich siehst / Hält mich in kurzer Schwebe«; ich »bin / wenn DU geschiehst« (85). Und (37): »Nicht / daß es etwas gibt / Wenn wir DIch nennen / DEine Gestalt zerstiebt / noch im Erkennen.« Unterderhand allerdings, wird man vielleicht sagen dürfen, erfolgt der Verweis auf den »einen Grund« durchgehend. Und gleich zu Beginn wird das Vorzeichen gesetzt, als Überschrift über das ganze Buch (5): »Soli Deo Gloria«. Der Autor von vornherein: auf Zehenspitzen. Gerühmt wird der Schöpfer dann indirekt: durch Demut und Genauigkeit des Blicks auf Momente der Schöpfung.

14. Manchmal erinnert die Würdigung des Übersehenen und Geringen und Unscheinbaren von ferne an die Bilder von Jean-François Millet oder an van Goghs »Kartoffelesser« oder »Bauernschuhe«. Die Kartoffeln, die Schuhe, die Kriechweide (114), das Weidelgras (110), die Kreuzspinne (62) ... – die Sperlinge (Lk 12,6). Sind nicht vergessen.