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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

844–847

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Wolfstädter, Ulrich Thomas

Titel/Untertitel:

Die Objektivität des Bewusstseins.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme 2021. 780 S. = Philosophie, 4. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783732907205.

Rezensent:

Christian Danz

Anliegen des hier anzuzeigenden Buchs Die Objektivität des Bewusstseins
von Ulrich Thomas Wolfstädter ist es, eine Grundlegung
der Ethik auszuarbeiten, die zugleich Philosophie im Sinne
einer wahren Anthropologie ist. »Wenn die Erfahrungswirklichkeit
auf der Objektivität des Bewusstseins beruht – was ich hier
zunächst postuliere und als Prämisse vorausschicke –, dann bleibt
nur übrig, alle wissenschaftliche Tätigkeit in ihrem Rang und Namen als Ethik zu verstehen (während die Philosophie die Wissenschaft
dieses Verhältnisses ist).« (31) Damit stellt sich W. in seiner
umfangreichen Studie einem hohen Anspruch. Er möchte das
leisten, was seines Erachtens weder Ernst Cassirer, Martin Heidegger,
Ludwig Wittgenstein noch viele andere wie Walter Benjamin
(41.299) in Angriff genommen und geschafft haben: eine philosophische
Grundlegung des Guten, die dem Relativismus enthoben
und dennoch keine Metaphysik im vorkritischen Sinne sein soll.
Mit einer Erkenntnistheorie, die zugleich Ethik ist, kommt –
und das ist das aufklärerische Pathos der Studie – Nacktheit als
Identität des Menschen in den Blick, eine Einsicht, die von der
bisherigen Aufklärung geradezu verdrängt wurde. »Tatsächlich ist
es die Identität , die uns im (technischen) Fortschritt zu schaffen
macht. Die Aufklärung legt unsere wahre Identität frei, während wir
noch gar nicht für sie und ihre Freilegung bereit sind : Es bröckeln die
kultürlichen Fassaden, die wir zu brauchen glauben, es schwindet
der nationale Halt im globalen Multikulturalismus, es gehen die
Arbeiten in der digitalen Revolution verloren, die einst Wertschätzung
und Anerkennung brachten, jetzt aber überflüssig sind, und
die Binarität in der geschlechtlichen Heterogenität wandelt sich zur
geschlechtlichen Vielfalt.« (15) Es geht also um eine Weiterführung
der Aufklärung vom sapere aude zum nudare aude (295).
Aufgebaut ist die ambitionierte Studie in drei Hauptteile, die
sich aus dem Programm, Philosophie als Wissenschaft des Verhältnisses
von Ethik und Wissenschaft zu verstehen, ergeben. Entsprechend
setzt der erste Teil Weltordnung: Ontologie einer echten
Anthropologie mit der philosophischen Grundlegung ein (51–271),
diskutieren der zweite Teil die Ethik (Lebendigkeit: Deontologie
einer anthropologischen Ethik , 275–613) und der abschließende
dritte Teil die Sprache: Wissenschaftstheorie im Lichte einer ontologischen
Deontologie (617–762). Ein knappes Nachwort beschließt
den Argumentationsgang der Untersuchung (763–766). Grundlage der in dem Buch ausgeführten Ethik ist die Objektivität
des Bewusstseins. Dessen Fundierung ist der erste Hauptteil
der Untersuchung gewidmet. Im Anschluss an Immanuel Kant
und vor allem die Kant-Deutung von Arthur Schopenhauer arbeitet
W. eine transzendentale Theorie des Bewusstseins aus. Anders
als beide, so seine Weiterführung, versteht W. das Bewusstsein und
seine transzendentalen Strukturen nicht als Ausstattung einer
subjektiven Instanz, der eine objektive Welt gegenübersteht. Vielmehr
gelte es, gerade diese Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden,
da sie es ist, die die Erkenntnis des Menschen verhindere und
einen kulturalen bzw., wie W. es nennt, kultürlichen Relativismus
entlässt. Um eine objektive Grundlage der Ethik zu schaffen, muss
die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgelöst werden. Doch ein solches
Fundament kann freilich nicht einfach gesetzt werden, da auf
diese Weise die Subjekt-Objekt-Spaltung in Anspruch genommen,
aber eben gerade nicht überwunden wird. Aus diesem Grund geht
W. auf die Transzendentalität des Bewusstseins an sich zurück,
welche die Grundlage aller Prozesse des Bewusstseins bildet. »Die
Objektiviät des Bewusstseins will nichts anderes heißen, als dass
das Bewusstsein (an sich) sich selbst , vorläufig gesagt, ›Objekt‹ ist
(d. h. auf unreflektierter erfahrungswirklicher Ebene zum Objekt
des Subjekts erklärt wird).« (37) Diese selbstbezügliche Idee eines
Bewusstseins an sich als Grundlage aller Erscheinungen ergibt
sich aus einer Weiterführung von Schopenhauers Deutung des
Kantischen Dings an sich als Willen. Dieser wird gleichsam durch
das Bewusstsein an sich ersetzt und als ein offener Prozess verstanden
(62–65), der sich offen in diversen Formen, von W. Leiblichkeit
genannt, realisiert. Damit ist der Wille und mit ihm die Willensfreiheit
aus der Grundlegungsstruktur ausgeschieden (66–77). Da
es stets das Bewusstsein an sich ist, welches sich in einem offenen
Prozess realisiert, ist es das Bewusstsein, welches sich in seinen
Inhalten selbst hat. Vor diesem Hintergrund kommt die Subjekt-
Objekt-Spaltung als Schein und Abstraktion in den Blick. Nicht ein
Subjekt steht einer Welt gegenüber, die von ihm ontologisch verschieden
ist, sondern das Bewusstsein begegnet sich im leiblichen
Haben von Inhalten selbst.
Auf diese Weise ist die Grundlegungsstruktur des objektiven
Bewusstseins umrissen. Aus ihr ergeben sich eine ganze Reihe von
Konsequenzen, die von W. in seiner Studie detailreich, mitunter
auch sehr redundant in Auseinandersetzung mit diversen philosophischen
Positionen und gegenwärtigen Kontroversen erörtert
werden. Das betrifft vor allem die im zweiten Hauptteil der Untersuchung
ausgearbeitete Ethik und die Darstellung eines Sollensbegriffs,
der sowohl die kantische Ethik als auch deren moderne
Weiterführungen hinter sich lässt. Insgesamt verfolgt der Teil das
Ziel, »die deontologische Qualität der Moral in ihrem Anspruch
auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit aus der Objektivität-Subjekt-
Spaltung zu holen« (275). Auch W.s zentrale These, das Nacktheitstabu
stelle den zivilisatorischen Sündenfall schlechthin dar
(vgl. 625), welches im dritten Hauptabschnitt ausführlich traktiert
wird, muss hier auf sich beruhen. Vielleicht war es ja auch doch
nur die Kälte nördlich der Alpen, welche zum Kleidungsgebrauch
führte. All das kann im Rahmen einer Besprechung nicht im Einzelnen
referiert und diskutiert werden. Es muss bei den grundlegenden
Folgen für die Ethik bleiben, die sich aus der von W. ausgeführten
wahren Anthropologie ergeben. Mit dieser Theorie des
objektiven Bewusstseins ist der Anspruch verbunden, nicht nur
eine wissenschaftlich fundierte Ethik auszuarbeiten, sondern auch
den ethischen Relativismus der Gegenwart durch eine objektive
Ethik zu überwinden. Diese fußt in dem Bewusstsein an sich. Jede
Realisierung des transzendentalen und damit metaempirischen
Bewusstseins in seiner Leiblichkeit ist damit gut (120–128). Folglich
ist Ethik »die Wissenschaft unserer Objektivität, indem wir in
ihren Mitteilungen den Spuren des Guten folgen« (278). Fundiert
ist die Ethik nicht auf der Ebene der Subjekt-Objekt-Spaltung
und der Kultur, sondern in dem transzendentalen Bewusstsein an
sich. Dieses ist jedoch entzogen. Als Grundlegungsstruktur liegt
es dem reflexiven Bewusstsein gleichsam stets im Rücken. Alle Bedeutungen
haben, da sie sprachlich verfasst sind, ihren Ort in der
Kultur, sind also geschichtlich geworden. »In der Sprache liegen
daher die Spuren des Guten, das kein vorherbestimmtes Nochnicht-
Sein zulässt« (155), doch das Gute selbst ist nichts Bestimmtes.
Hieraus resultiert W.s These, die in dem Buch ausführlich
traktiert wird, dass die Identität des Menschen unbestimmt, also
nackt ist. Auf der Ebene des transzendentalen Bewusstseins gibt
es keine bestimmten Merkmale, die vorgegeben sind, um die geschlechtliche
Identität eines Menschen zu bestimmen. Deshalb ist
das Ich eine unisexuale Einheit (144–153). Geschlechterdifferenzen
lassen sich nicht an Merkmalen festmachen. Sie werden mit dem
Genderdiskurs aufgelöst, aber zugleich wird dieser auf das objektive
Fundament des Bewusstseins an sich zurückgeführt. Aus
dem cum grano salis monistischen Fundament der Ethik ergibt
sich eine Anerkennung der Pluralität von Andersheiten, die sich
nicht reduzieren lassen. Die Spuren des Guten, die sich in der heterogenen
Mannigfaltigkeit der Leiber realisiert, ist wechselseitig
anzuerkennen. »Wenn jedoch jeder jeden so sein lässt, wie er ist,
und dies respektiert, braucht man um sich selbst keine Angst zu
haben oder sich infrage stellen zu lassen. Dann können und dürfen
wir sein, was wir sind .« (292)
W. stellt sich einen hohen Anspruch und verhandelt in seinem
Buch viele Themen. Leistet es wirklich, was es verspricht, eine objektive
Begründung einer Ethik auszuführen? Das kann man bezweifeln,
da auch das Bewusstsein an sich ein theoretisches Konstrukt
ist, welches W. setzt, um eine objektive Grundlegung von Anthropologie und Ethik auszuarbeiten. Zu den Erkenntnisbedingungen der
Moderne gehört, dass jede übergeordnete Grundlegungsstruktur
ein Gedanke ist, der an eine bestimmte Position zurückgebunden
ist. So wie er gesetzt wird, kann er auch wieder zurückgenommen
werden. Damit ist die Transzendentalität des Bewusstseins an sich
nicht besser dran als jede andere Grundlegungsfigur.