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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

831–833

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Poetke, Fabian

Titel/Untertitel:

Vom politischen Anreiz zur liberalen Überzeugung. Die Kooperation von Staat und Kirchen in der Bildungs- und der Verteidigungspolitik der frühen Bundesrepublik Deutschland.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 421 S. = Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, 19. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783525370926.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Dass die sogenannte Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985
nicht den Anfang, sondern den vorläufigen Abschluss der Demokratie-
Lerngeschichte des deutschen Protestantismus darstellt,
ist seit Langem bekannt und theologiegeschichtlich inzwischen
gut erforscht. Ein wesentliches Zwischenergebnis des Münsteraner
Projekts »Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier
« am Exzellenzcluster »Religion und Politik« besagt,
dass in dieser Lerngeschichte die Erfahrungen derjenigen Theologinnen
und Theologen, die seit dem Kaiserreich Mandate in den
Volksvertretungen auf Landes-, Reichs- und Bundesebene übernommen
hatten, eine wichtige Rolle spielen. Die hier vorzustellende,
bei Karsten Fischer in München entstandene politikwissenschaftliche
Dissertation von Fabian Poetke liefert komplementäre
Einsichten, die sich eingehender Analysen der politischen Kooperation
von staatlichen Exekutiven mit kirchenleitenden Organen
beider Konfessionen in der frühen Bundesrepublik verdanken.
Mit seiner materialreichen Untersuchung zur Bildungspolitik
in den bevölkerungsreichsten Bundesländern sowie zur Verteidigungspolitik
des Bundes kann P. seine eingangs formulierte Hypothese
eindrucksvoll belegen, »dass die Entstehung von Strukturen
einer kooperativen religionspolitischen Governance, die sich in der
politischen Problemlösung bewähren und Erwartungssicherheit
generieren, maßgeblichen Anteil an der Herausbildung einer genuinen
›religiösen Liberalität‹ besitzt. Damit ist jene Disposition
gemeint, nach der Glaubensgemeinschaften aus freien Stücken
den Vorrang demokratischer politischer Entscheidungen gegenüber
religiösen Geltungsansprüchen sowie die grundlegenden
liberalen Freiheitsrechte anerkennen, was ihnen eine positive
Teilhabe am liberaldemokratischen Staat ermöglicht« (14 f.). Durch
die Einbindung der Religionsgemeinschaften in fachpolitische
Prozesse wurde »ein partnerschaftliches Verhältnis mit dem liberalen
Staat kultiviert […], dessen Verfestigung letztlich nicht nur
gegenüber dem konkreten Staat oder einer bestimmten Regierung
eine positive Einstellung hervorruft, sondern auch gegenüber der
freiheitlichen Idee der liberalen Demokratie selbst« (15).
In seiner akribisch gearbeiteten Untersuchung kann P. in parteipolitisch
und konfessionell ganz unterschiedlich gelagerten
Verhältnissen strukturelle Konvergenzen aufweisen, die auf das
Konto von Kooperationsbereitschaft und politischen Anreizen zur
Mitwirkung gehen, denen sich die staatlichen Akteure politisch
verschrieben hatten. Die staatliche Kooperationsbereitschaft ergab
sich aus der starken Stellung der Kirchen in der Nachkriegszeit,
die auch von den alliierten Besatzungsmächten anerkannt
und befördert wurden. Das staatliche Handeln griff dabei die oftmals
hemdsärmelig vorgetragenen Ansprüche und Forderungen
der Kirchen auf, suchte bisweilen Konflikte, schaffte es aber
schluss-endlich immer, diese in freundschaftlicher Kooperation
auf das sachlich Erforderliche und politisch Machbare zurückzustufen.
Mit unterschiedlichen Reaktionszeiten gingen die Kirchen
auf die vom Staat eröffneten Mitwirkungsmöglichkeiten ein, die
sich dann wiederum auf die kirchliche Einstellung zum Staat und
zur liberalen Ordnung der Gesellschaft positiv zurückwirkten.
Die religionspolitische Kooperation leistete somit ein Doppeltes:
»Durch eine entgegenkommende, kooperative religionspolitische
Governancepraxis mit Angeboten und Anreizen vermag der Staat
günstige Rahmenbedingungen zu setzen für die Entstehung religiöser
Liberalität im Sinne einer prodemokratischen, individuelle
Freiheiten bejahenden religiösen Disposition aus dem jeweiligen
Gemeinschaftsethos heraus. Dabei können die nicht zuletzt theologisch
begründeten Vorbehalte gegenüber einer liberaldemokratischen
Verfasstheit des Staates statt durch theoretisch Überzeugung
vielmehr durch positive praktische Erfahrungen mit Politik
und Rechtsordnung überwunden werden. In diesem Zusammenhang
kann der Staat von einem Autoritätsvorsprung der Religionsgemeinschaften
ihm gegenüber profitieren, indem er sich durch
seine religionsfreundliche Politik ihrer Loyalität vergewissert und
dadurch seine politische Autorität gegenüber den Gläubigen festigt
« (15 f.). Dadurch ergab sich ein konstruktiver Mechanismus,
den P. auf den Begriff der Autoritätssymbiose bringt.
Das Buch umfasst sechs Teile, die ersten drei sind grundsätzlichen
Fragestellungen gewidmet. In »I. Einleitung« bestimmt P.
den konkreten Untersuchungsgegenstand, stellt methodische
Überlegungen an und referiert den Forschungsstand. »II. Liberaldemokratische Verfassungsordnung und staatliche Autorität
im Spannungsfeld von Politik und Religion« präsentiert den
politikwissenschaftlichen Theorieteil, der in den wegweisenden
Abschnitt »Bedingungen und Potential liberaler Religionspolitik
« mündet. Anschließend wird in »III. Die freiheitliche Staatsidee
und die Kirchen in Deutschland« in historischer Perspektive
entwickelt. Auf diesem Fundament wendet sich P. dem Material
zu. Der umfangreichste, ca. 200-seitige Teil IV. erörtert die »Religionspolitische
Governance in der westdeutschen Bildungspolitik
1945–1965«. Auf eine Skizze der allgemeinen Rahmenbedingungen
(1.) folgen Fallstudien zu Niedersachsen (2.), Nordrhein-Westfalen
(3.) und Bayern (4.). Teil V. analysiert auf ca. 60 Seiten die »Religionspolitische
Governance in der Verteidigungspolitik der frühen
BRD«. Teil VI. präsentiert auf ca. 30 Seiten die Ergebnisse und gibt
einen Ausblick in die Gegenwart. Die Lektüre des flüssig geschriebenen
Buches ist ein Genuss. Souverän führt P. seine Leserschaft
durch die von ihm herangezogenen Theorien und den Reichtum
der von ihm klug ausgewerteten Materialien.
Mit Blick auf die Gegenwart leitet P. zwei Einschätzungen ab.
Erstens, die Reichweite des Erfolgsmodells aus der frühen Bundesrepublik
hängt nicht an landesspezifischen Rahmenbedingungen.
Es dürfte übertragbar sein, »wenn ein ähnliches Beziehungsgefüge
zwischen Staat und Religionsgemeinschaften vorliegt, nämlich
jenes einer freiheitlichen Kooperation, denn prinzipiell sind die
[…] beschriebenen Governancestrukturen mit jeder liberaldemokratischen
Ordnung kompatibel« (390), wie P. vor allem mit Blick
auf die USA formuliert. Zweitens gibt P. den gegenwärtigen religionspolitischen
Bemühungen um die Integration der Religion des
Islams große Erfolgsaussichten. Die Rahmenbedingungen haben
sich zwar verändert und der organisierte Islam in Deutschland bietet
auch keine mit den Kirchen vergleichbaren Repräsentanz- und
Autoritätsstrukturen. Dennoch sei von der »auf Integration und
Zusammenarbeit gerichtete[n] religionspolitische[n] Governance
einiger Erfolg zu erwarten, zumal damit auch eine symbolische
Gleichbehandlung mit den christlichen Religionsgemeinschaften
verbunden wäre, was allein bereits integrative Wirkung verspricht.
« (392) Mit diesem optimistischen Ausblick endet dieser
höchst gewichtige Beitrag zur religionspolitischen Zeitgeschichte.