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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

813–815

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wucherpfennig, Ansgar

Titel/Untertitel:

Sexualität bei Paulus.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 247 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 9783451386893.

Rezensent:

Christine Gerber

Theologische Publikationen sind oft kontextbedingter, als sie zugeben.
Im Falle des hier vorzustellenden Buches wird der Kontext
ausdrücklich benannt: Es ist die Diskussion um die katholische
Sexuallehre und konkret die Frage, ob Seelsorge und Segen gleichgeschlechtlich
Liebenden zugesprochen werden dürfen (8). Ansgar
Wucherpfennig, Jesuitenpater und Professor für Exegese des Neuen
Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule
Sankt Georgen, war zunächst das Nihil obstat für die Weiterführung
des Rektorats an der Hochschule verweigert worden, auch
wegen seiner Positionen zu Homosexualität und Segensfeiern und
dem Zugang von Frauen zu Ämtern. Überdies reflektiert das Buch
sexualisierte Gewalt in der Kirche (32).
In diesem Kontext steht die Darstellung der »Sexualität bei
Paulus«, genauer Aussagen der authentischen Paulusbriefe, weil
dessen sexualethische Positionen zwar bis heute prägend seien,
aber befremdlich wirkten. Paulus wird als Person eingeführt, auch
mit seinem Hang zur eher stoischen Askese, aber vor allem als jüdischer
Theologie, der orientiert sei an der Septuaginta und der
Freiheitsbotschaft des Messiasglaubens.
Da »Sexualität« ein modernes Konzept ist, stellt die Auffassung
davon bereits Weichen für die darunter behandelten Themen und
Texte. Hier wird Sexualität verstanden als Begehren und Summe
sinnlich-kognitiver Lebensäußerung, die nicht auf genitale Sexualität
und die Frage der Fortpflanzung zu beschränken sei. Auch das
Anliegen einer »zeitgemäßen Geschlechtersolidarität« sei eng mit
dem Sexualitätskonzept verbunden (9), das moderne Konzept von
persönlicher Selbstbestimmtheit liege Paulus aber fern (31). Dieser
Zugriff und die darauf fußenden Rekonstruktionen sind erkennbar
durch das Anliegen bestimmt, mit der katholischen Sexualund
Geschlechterethik ins Gespräch zu kommen. Zu fragen wäre
aber, ob Paulus überhaupt ein Konzept von Sexualität hat oder nur
sexuelle Praktiken diskutiert. Auch hätte ein wenig Foucaultsche
Problematisierung von stets machthaltigen Diskursen und deren
Einschreibung in die leiblichen Verhältnisse den Blick geschärft
(nur 70, allerdings anders bezogen).
Die Durchführung ist nicht systematisch, sondern bestimmt
von der These einer doppelten Prägung des Paulus: einerseits
durch die biblische Schöpfungsüberlieferung und den Dekalog,
andererseits durch die Christusüberlieferung von der Überwindung
ethnischer Grenzen, die hier mit dem Galaterbrief eingespielt
wird. Die Fundierung in der Schöpfungstheologie bestimmt
die behandelten Texte: Der Analyse der Schöpfungserzählung der
Septuaginta als bereits platonisch inspirierter Relecture der hebräischen
Version folgt eine Interpretation von Paulustexten, in denen
Paulus nach W. auf Gen 1–3LXX rekurriert (1Kor 6,12–20; 1Kor 6,9 f.
sowie Röm 1,26 f. zur Frage der Homosexualität; 1Kor 11,2–16). Begehren
und dessen Verknüpfung mit Sünde wird vom Dekalog aus
in Röm 7 rekonstruiert, aber einer »augustinischen« Engführung
der Sündenkonzeption auf sexuelles Begehren bei Paulus wird
widersprochen. Anhand von Parallelen aus frühjüdischen Texten
(Philo, TestXII) und paganen Konzepten (namentlich der Stoa) werden
die geistesgeschichtlichen Kontexte exemplarisch vorgestellt.
Dass Geschlechterrollen jedoch durch die messianische Erfahrung
relativiert werden, wird an weiteren Texten gezeigt (bes. Gal 3,28;
4,19). So gelingt es W., eng an Texten zu argumentieren und doch
allgemein verständlich zu schreiben. Ein »Aufklärungs«-Interesse
schlägt sich auch da nieder, wo über aktuelle Gendertheorien und
Sexualitätsforschung informiert wird, etwa über die Unterscheidung
von pädosexuellen Praktiken und Homo- und Heterosexualität.
Am Schluss werden lehramtliche Aussagen »im Spiegel der
Briefe des Paulus« (213) diskutiert; dass mit Paulus die negative Bewertung
von Homosexualität und der Ausschluss von Frauen von
Ämtern zu legitimieren seien, wird so bestritten.
Die exegetische Entfaltung zu den einzelnen Texten informiert
über historische Kontexte und exemplarisch über Forschungsdiskurse.
Dass einzelne Interpretationen diskutabel bleiben, ist
selbstverständlich – zumal bei dem Versuch, das Denken des
Paulus zu rekonstruieren, immer Fragen bleiben, die sich, wenn
überhaupt, erst im Eschaton werden klären lassen. Hier seien drei
grundsätzlichere Anfragen formuliert: Erstens scheint mir fraglich,
dass die Schöpfungserzählungen die Auffassung des Paulus
von Sexualität so unmittelbar prägen, da er diese nicht anthropologisch
fundiert, sondern meist Verhalten in der Alternative von
legitimer und illegitimer Sexualität diskutiert. Dieser Schöpfungsfokus
verengt zweitens den Blick, so dass die auch für implizite
Muster aufschlussreichen Texte 1Kor 7,1–7 und 1Thess 4,3–8 nur
am Rande erwähnt werden. Deutlicher wäre drittens (besonders
in Bezug auf 1Kor 6,12–20; Röm 1,26 f.) zu markieren, dass Paulus
die Legitimität des Begehrens nur vom Geschlecht und Status (Ehe)
in der Objektwahl abhängig macht, nicht aber von der Würde der
anderen Person. Zu Recht wird die interpersonale Ethik des Paulus
über die Tora-Rezeption und das Liebesgebot eingeholt; diese ist
m. E. aber bei Paulus nicht explizit mit Sexualethik verknüpft.
Der besondere Wert der Darstellung liegt in der dezidierten
Einordnung der Sexualitätsdiskurse in die paulinische Theologie
und die die Aussagen veranlassenden Kontexte. Denn das impliziert
eine prinzipielle Relativierung der materialen Sexualethik
des Paulus bzw. der gesamten Bibel und widerspricht dem immer
noch üblichen Vorgehen, einzelne Aussagen ohne Kontextualisierung zu zitieren und normativ zu setzen. Dieses Vorgehen ist nach
W. nicht nur hermeneutisch falsch, sondern auch in seinen ausgrenzenden
Auswirkungen menschenfeindlich. Er stellt dagegen
die christliche Freiheit auch als Praxis: »Es braucht Menschen, die
zum Zusammenhalt der Gemeinschaft [der Christusglaubenden]
über Grenzen hinweggehen, und es braucht Menschen, die im
Ringen um die Freiheit dieser Gemeinschaft mit Freimut auftreten
«, so schließt er das Buch (231). Dieser christologisch begründete
Ruf zur Freiheit bleibt, wie das Buch insgesamt, auf innerkirchliche,
in erster Linie katholische Diskurse ausgerichtet. Wo noch
innerhalb biblischer Begründungen um Normen verantworteter
Sexualität gerungen wird, leistet das Buch einen informativen und
positionell wichtigen Gesprächsbeitrag.