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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

791–793

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Silber, Stefan

Titel/Untertitel:

Postkoloniale Theologien. Eine Einführung.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto 2021. 272 S. = utb 5669. Kart. EUR 26,90. ISBN 9783825256692.

Rezensent:

Simon Wiesgickl

Seit etwa zehn Jahren beschäftigt sich Stefan Silber mit Postkolonialen
Theologien. Der Professor für Systematische Theologie an der
Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen hat umfangreich
zu Befreiungstheologien, vorwiegend in Latein- und Mittelamerika,
geforscht. Als Herausgeber eines Befreiungstheologischen
Rundbriefs verknüpft er seit Längerem akademische Lehre mit
Basisbewegungen. In den letzten Jahren hat S. immer wieder mit
Beiträgen zu Postkolonialen Theologien auf Deutsch, Englisch
und Spanisch in verschiedenen Zeitschriften auf sich aufmerksam
gemacht.
Nun hat er die erste wissenschaftliche Einführung in deutscher
Sprache für diesen immer noch jungen Bereich theologischer Forschung
vorgelegt. Gastprofessuren in El Salvador und Bolivien haben
ihm wichtige Einblicke in die dortigen dekolonialen Diskurse
verschafft. Gerade die Verknüpfung unterschiedlicher Wissenstraditionen
und sprachlich differenter Stränge postkolonialer und dekolonialer
Theologie macht die große Stärke seines Buches aus. Damit
gelingt S. etwas, das über die Anforderungen an eine gelungene
Einführung hinausgeht. Sein Band »Postkoloniale Theologien« ist
nicht nur für Studierende und Interessierte ein Augenöffner und
künftiges Referenzwerk, sondern hält auch für Forschende, die
sich schon intensiver mit dem Gegenstandsbereich befasst haben,
noch Neuigkeiten und unerwartete Lesefrüchte parat. Beispielhaft
bringt er die Denkschule des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano
ins Gespräch mit literaturwissenschaftlich orientierten Methoden
der (nord-)amerikanischen Exegese und vergisst darüber
nicht, Gesprächsangebote an die aktivistische Szene postkolonialer
Provenienz in der deutschen Debatte zu machen.
Leitend für Stefan S.s Verständnis von postkolonialer Theologie
sind drei Elemente. Nämlich 1. der Kolonialität der Macht nachzuspüren
und dabei das theologische Denken zu dekolonialisieren;
2. alternative Lesarten der Bibel zu entdecken und gegenüber
klassischen Zugängen zu profilieren; und schließlich 3. Widerstand
und Befreiung von neokolonialen Strukturen und Herrschaftsmustern
aufzuzeigen und dazu zu locken. Dem Buch spürt
man in seinem Zugang stets an, was S. auch deutlich benennt: Er
möchte keine kritische Draufschau bieten, keine systematische
Einordnung, sondern lädt dazu ein, der Spur seiner Entdeckungen
zu folgen. Dazu zeichnet er bei seinem »wohlwollenden Kennenlernen
« (42) den Grundimpuls des Postkolonialismus nach. Er
versteht diesen als Anfrage an den Zusammenhang von Wissen
und Macht in der (Geistes-)Geschichte des Westens. Was sich am
zweiten Kapitel zu Diskurspraktiken illustrieren lässt, gilt in seiner
Herangehensweise pars pro toto für das gesamte Buch, das
aus sechs inhaltlichen Kapiteln besteht. Zur Vorgehensweise: S.
leitet jeweils knapp und konzise in den Gegenstandsbereich ein,
verweist auf die wichtigsten Beiträge und Sammelwerke sowie die
theologischen oder philosophischen Schulen, die Pate gestanden
haben. Das ist anschaulich, manchmal narrativ und oft verknüpft
mit geschichtlichen Referenzen. Kenntnisreich werden Kontexte
und Disziplinen der theologischen Landschaft durchschritten und
wichtige Verbindungen hergestellt. Dass S. kulturwissenschaftliche
Diskurse stets an biblische Textwelten zurückbindet, zeigt
sich etwa an der Diskussion der Stelle aus Hld 1,5: »Schwarz bin ich
und schön«. Die große Linie rassistischer Interpretation wird von
Origenes bis in die frühe Neuzeit aufgespannt. Das Konzept des
othering wird erklärt und anhand unterschiedlicher Bibelkommentare
nachvollziehbar gemacht.
So griffig das Beispiel ist, so kritisch könnte man an dieser Stelle
(und anderen) einhaken. Seit der Orientalismus-Debatte, die
Edward Said losgestoßen hat, stehen postkoloniale Denker dem
Vorwurf mangelnder historischer Präzision und generalisierender
Grundannahmen gegenüber. Konkret: Inwiefern kann man bei
Origenes schon von (modernem) Rassismus sprechen, und müsste
der Begriff nicht behutsamer eingesetzt werden, um sein analytisches
Potential zu behalten?
S. bleibt dem Motto seiner Einführung jedoch treu und verfolgt
diesen kritischen Strang nicht weiter. Stattdessen ruft er in
schneller Abfolge stimmige Unterthemen auf: Auf den rassistischen
Kern der europäischen Moderne nach Mbembe folgen die
Darstellung der problematischen Interpretationsgeschichte der
Noah-Erzählung, Kritik an eurozentrischer Begriffsgeschichte, der
feministische Strang postkolonialer Theoriebildung, die subaltern
study group , das Konzept der Intersektionalität und schließlich
Hegemonie bei Antonio Gramsci. Das wirkt nicht nur in der Zusammenfassung,
sondern auch beim Lesen etwas gedrängt, ergibt
sich jedoch zwangsläufig aus seiner Konzeption. Angesichts der
Fülle der Themen verblüfft es etwas, dass der Bereich der Religionswissenschaft
nur schwach ausgeleuchtet ist.
Das Herzstück des Buches ist dagegen das Doppelkapitel zu
Widerstand und Alternativen. Anhand vieler Bibeldeutungen und
Lesestrategien profiliert S. postkolonialen Widerstand als Kunst
des Perspektivwechsels und macht nachvollziehbar, warum dieser nicht dualistisch, sondern als Aushandlungsprozess in der
Kontaktzone zu verstehen sei. Dass dekoloniale und postkoloniale
Perspektiven zusammengedacht werden können und sich
gegenseitig bereichern, zeigt die Zusammenschau von Spivaks
Konzept des »strategischen Essentialismus« mit Nicolás Panottos
kenotischer Transformation. Doch dies sind nicht die einzigen
außereuropäischen Denkweisen, die entfaltet werden: Indigene,
synkretistische, ökofeministische und queere Theologien werden
im Hinblick auf alternative biblische Lektüren vorgestellt, die kritische
Diskussion um kulturelle Aneignung wird wiedergegeben
und ihr Potential zur Überwindung der Kolonialität angedeutet.
Dem pädagogischen Anspruch einer Einführung wird der Band
durch die gelungene Zusammenstellung von Kurzbiographien
und dem hilfreichen Glossar gerecht, die über den Standard des
natürlich auch vorhandenen Stichwortverzeichnisses und Bibelstellenregisters
hinausgehen. Abgerundet wird die Einführung
von einem prägnanten Fazit, in dem postkoloniale Theologien
für ihre »befreiende Verunsicherungen« (Kapitel 6.6) gewürdigt
werden. Ein ganzes Panorama an möglichen Lern- und Dialogstrategien
(208 f.) wird dabei vor der Leserin bzw. dem Leser entfaltet.
Dabei gelingt das Kunststück, auf der einen Seite postkoloniale
Interventionen nicht zu zähmen und in handelsübliche Portionen
zu verpacken, und auf der anderen Seite kein Gefühl lähmender
Ohnmacht zu schaffen. Stattdessen kann man sich vorstellen, dass
wer sich auf diese wohlwollende Lektüre eingelassen hat, nun tiefer
in einzelne Themen einsteigen möchte. Das Herzblut S.s für das
Anliegen wird im Appell nach einem »Abschied vom Kolonialwarenladen
« (Kapitel 7) noch einmal deutlich. Mit seiner Einführung
hat S. diesen Weg für viele gangbarer gemacht.