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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

865–868

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Hallermann, Heribert, Meckel, Thomas, Droege, Michael, u. Heinrich de Wall [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht. In 4 Bänden.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2019–2021. Bd. I: A– E. 2019. XXXVI, 939 S. Lw. EUR 559,00. ISBN 9783506786371. Bd. II: F–K. 2019. XXXV, 1118 S. Lw. EUR 559,00. ISBN 9783506786388. Bd. III: L–R. 2020. XXXII, 984 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 559,00. ISBN 9783506786395. Bd. IV: S–Z. 2021. XXXII, 857 S. Geb. EUR 559,00. ISBN 9783506786401.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Das Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht (LKRR) wird von den Kirchenrechtslehrern Heribert Hallermann, Thomas Meckel, Michael Droege und Heinrich de Wall herausgegeben. Die Redaktion wurde von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gefördert. Der renommierte Verlag Ferdinand Schöningh, inzwischen ein Imprint der niederländischen Brill-Gruppe, hat das Werk in vier Bänden publiziert. Die über 2.600 Stichworte erscheinen auch in einer Online-Ausgabe.

Der Titel signalisiert die Verbreitung des Themenspektrums, die das seit 1919 geltende Religionsverfassungsrecht seit gut einhundert Jahren durchlaufen hat. War es ursprünglich vornehmlich auf die Ordnung des Verhältnisses der staatlichen Ebenen zu den großen christlichen Kirchen bezogen, so nehmen die Herausgeber jetzt den zunehmenden religiösen Pluralismus der Gegenwart ernst: In dieser Enzyklopädie wird das Religionsrecht auch auf die orthodoxen Kirchen sowie auf das Judentum und den Islam bezogen. Viele, freilich längst nicht alle Artikel sind daher in Kategorien wie katholisch, evangelisch, ostkirchlich, orthodox, jüdisch und islamisch unterteilt. Insofern ist die gegenüber dem Vorgängernachschlagewerk, das noch Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht hieß, vorgenommene Erweiterung des Titels angemessen und angesichts der religionskulturellen Lage auch geboten. Allerdings wird einschränkend notiert: »Die Darstellung des Rechts der nicht-christlichen Religionen betrifft nur zentrale Begriffe und beansprucht weder Vollständigkeit noch einen erschöpfenden Gesamtüberblick über das betreffende Recht.« (Bd. I, V). Dazu sei ein Beispiel genannt: So entsprechen dem Artikel »Kirchengebäude« (Staatlich, Katholisch, Evangelisch; vgl. Bd. II, 821–827) die Artikel »Moschee« (vgl. Bd. III, 291 f.) und »Synagoge« (vgl. Bd. IV, 357 f.). Diesen fehlt aber religionsrechtliche Tiefenschärfe, wie sie etwa mit Blick auf Fragen der Einweihung, Widmung oder Entwidmung angezeigt wäre. Man sieht daran, dass man nicht nur theologisch, sondern auch religionsrechtlich erst am Anfang steht, wenn es darum geht, übergreifendes Wissen zu inventarisieren.

Jenseits dieser Einschränkung informieren die meist gut zu lesenden Beiträge zuverlässig über den aktuellen Stand. Der die religiöse Vielfalt in Deutschland abbildende Zugriff bietet gerade bei Themen, die das staatlich begleitete religiöse Leben in Deutschland betreffen, wertvolle Informationen. Dazu seien einige Beispiele angeführt.

Die im Einzelnen sehr unterschiedlichen Auffassungen zur Ehe, die von allen der religiösen Traditionen sehr hochgeschätzt wird, wird daran kenntlich, dass es 56 zum Teil untergliederte Artikel dazu gibt (vgl. Bd. I, 693–805), zuzüglich acht Artikel über die Trauung (vgl. Bd. IV, 462–476). Für die katholische Kirche ist die Ehe »naturrechtlich grundgelegt u. somit dem Staat u. der Kirche vorgegeben.« (Bd. I, 698) Zwischen Getauften ist die Ehe allerdings »immer sakramental« (ebd.) und Teil der Heilsordnung. Das besagen auch die orthodoxen Traditionen. Für die evangelische Tradition gilt die Ehe »als Keimzelle der gesamten gottgefälligen Welt- od. Gesellschaftsordnung« (Bd. I, 701), die »den Rahmen für die natürliche Anl. des Menschen bildet, sich fortzupflanzen« (702). Im Judentum wiederum ist die Ehe »die Erfüllung eines religiösen Gebots. […] Die Ehepartner sind einander, der Allgemeinheit u. Gott gegenüber verpflichtet, ihre Beziehung treu sowie in Liebe u. gegenseitigem Respekt zu gestalten u. ihr Heim zu einem ›kleinen Heiligtum‹ (Ez 11,16) zu machen« (703). Dagegen ist im Islam die Ehe »ein religiös imprägnierter zivilrechtlicher Vertrag, der zu den Zentralmaterien des islam. Rechts der Scharia gehört, aber auch vielfältigen Glaubensregeln für ein gottgefälliges Leben unter-liegt« (704). Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die im staatlichen Eherecht inzwischen ermöglichte Eheschließung gleichgeschlechtlicher Personen religiös nur im evangelischen Spektrum und seit 1996 im progressiven Judentum der USA Entsprechungen findet. Religionsrechtlich komplex ist nach wie vor die Lage bei gemischt-konfessionellen und gemischt-religiösen Paaren. Die diesbezüglichen Artikel finden sich unter dem Stichwort »Religionsverschiedene Ehe« (vgl. Bd. III, 907–913). Einen weiteren Hinweis gibt der Artikel »Doppeltrauung – katholisch« (Bd. I, 674).

Die Artikel zur Taufe informieren leider nicht über Fragen der (durchaus nicht eindeutigen) Anerkennung der Taufe zwischen den christlichen Konfessionen. Sie werden in den Artikeln zum Stichwort »Konversion« (Bd. II, 1050–1058) angedeutet. Die Taufe von Asylbewerberinnen und -bewerbern aus muslimisch geprägten Ländern und die damit verbundenen Probleme bei Verwaltungsgerichtsentscheidungen werden ebenfalls hier angesprochen (vgl. 1052). Es fehlt ein Artikel zum Taufverständnis in der Orthodoxie. Im evangelischen Spektrum übergeht man die in einigen Freikirchen wichtige Ablehnung der Säuglings- und Kindertaufe und die daraus entstehenden kirchenrechtlichen und theologischen Fragen. Von größter Klarheit sind dagegen die Artikel Beschneidung im Judentum und Islam, besonders bezüglich der in Deutschland geltenden Bestimmung nach § 1631d BGB (vgl. Bd. I, 370–373). Juris-tisch komplexer fällt die Abwägung beim Schächten aus, da diese Tötungsmethode nicht nur durch die Aufwertung des Tierschutzes zum Staatsziel und die europäische Rechtsprechung, sondern auch durch rechtspopulistische Bestrebungen, aus antisemitischen Motiven den Tierschutz zu erhöhen, um das Schächten zu erschweren, unter Druck geraten ist. Derzeit gilt: »Der verfassungsrechtliche ge­botene Ausgleich zwischen Tierschutz u. Religionsfreiheit erfolgt […] durch spezielle Anforderungen an die Sachkunde der m. dem Schächtvorgang betraute Personen u. durch die Überwachung durch die zuständigen Veterinärämter.« (Bd. IV, 52)

Bezüglich der Bestattung erfährt man, dass die katholische Kirche Regelungen erlassen hat, die die Mitwirkung eines Seelsorgers bei neuerdings sehr populären Beisetzungen in biologisch abbaubaren Urnen im Wald erlauben, sofern »der Wunsch […] nicht in einer glaubenswidrigen Einstellung wurzelt« (Bd. I, 377). Im evangelischen Spektrum ermöglicht der Verweis auf die Seelsorge gegenüber den Angehörigen eine kirchliche Bestattung von Nichtmitgliedern der Kirche, dies gilt auch für ungetauft verstorbene Kinder. Zu den neuerdings begehrten Trauerfeiern für sogenannte Sternenkinder schweigt der Artikel allerdings. In den orthodoxen Kirchen gilt die Feuerbestattung nach wie vor als Ausnahme. Im jüdischen Recht besteht die Pflicht, einen Toten noch am selben Tag zu bestatten. Für die muslimische Bestattung ist entscheidend, dass der oder die Tote in die Gebetsrichtung blickt. Dafür nennt der Artikel eine Fülle von Varianten, die die Anpassung muslimischer Bestattungsvorschriften an das deutsche Friedhofsrecht ermöglichen.

Bezüglich aktueller Entwicklungen im Religionsrecht informiert das Lexikon über die neuen Bestimmungen, etwa zur jüngst eingeführten jüdischen Militärseelsorge (vgl. Bd. III, 253 f.), zum kirchlichen Arbeitsrecht (vgl. Bd. I, 228–235), zu »Theologische Fakultät, Hochschuleinrichtung – jüdisch« (vgl. Bd. IV, 432–434) und »Theologische Fakultät, Hochschuleinrichtung – islamisch« (vgl. Bd. IV, 434–435.). Hier werden die Varianten für die von der Verfassung gebotene Zusammenarbeit der Länder mit den islamischen Religionsgemeinschaften dargelegt. Auch die Artikel über den Religionsunterricht (vgl. Bd. III, 894–907) ordnen neue Überlegun- gen etwa zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht oder einem religionsübergreifenden Religionsunterricht rechtlich ein. Neuere Entwicklungen werden in den Artikel zum orthodoxen und islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen reflektiert. Der Artikel zum jüdischen Religionsunterricht verharrt leider im Programmatischen und spart Hinweise zur rechtlichen und (schul)organisatorischen Durchführung aus.

Der Artikel »Feiertage – Staatlich« bestätigt, dass der staatliche Feiertagskalender nach wie vor stark vom Christentum geprägt ist. »Die Anerkennung weiterer, insbes. nicht-chr. F. ist in das Ermessen des Gesetzgebers gestellt, der die religiöse Repräsentativität der F. zu beachten hat.« (Bd. II, 36) Dieser Gesichtspunkt kann auch zum »Entzug« des Status als gesetzlicher Feiertag führen, auch aus finanz- oder volkswirtschaftlichen Erwägungen. »Einen absoluten Schutz einzelner F. gibt es […] nicht.« (Ebd.) Die Vielfalt religiöser Feiertage spiegeln die Artikel zu den religiösen Traditionen. Dabei wird u. a. deutlich, dass ihre Implementierung in das Bewusstsein der Gesamtgesellschaft durch die anderen Zeitrechnungen, die den Festtagskalender in den christlichen Orthodoxien, im Judentum und im Islam bestimmen, erschwert ist.

In dem Artikel über die inzwischen politisch strittigen »Staatsleistungen« erfährt man, dass diese nicht »dem Ersatz des säkularisierten Vermögens« dienen, sondern »die infolge der Säkularisierung ausbleibenden Vermögenserträge« (Bd. IV, 244) der Kirchen substituieren. Das von der neuen Bundesregierung geplante Rahmengesetz, das die Ablösung der Staatsleistungen durch die Bundesländer ermöglichen soll, verhindert nicht, dass neue leistungsstaatliche Zuwendungen an die Kirchen oder andere Religionsgemeinschaften begründet werden können.

Von bedrückender Aktualität sind die wichtigen Artikel zum sexuellen Missbrauch. Eine ernüchternde Bilanz zieht der Autor für die katholische Kirche: »Das kirchl. Verständnis des Begriffs […] ist weder identisch noch kompatibel m. dessen Verständnis im staatl. Strafrecht der BRD. Insofern wird hier das dringliche Desiderat erkennbar, dass die Kirche über den berechtigten strafrechtlichen Schutz der eigenen Rechtsgüter der Sakramente u. der zölibatären […] Lebensform hinaus auch die seelsorglichen Beziehungen aller Art strafrechtlich schützen sollte.« (Bd. IV, 180) Auch für den evangelischen Bereich wird deutlich, »dass die bisherigen Bemühungen um die Prävention nicht ausreichen, um systemisch bedingte Ge­fahrenlagen für sexualisierte Gewalt in den Strukturen der Kirche wirksam bekämpfen zu können. Prävention erfordert viel mehr individuelle u. institutionelle Aufarbeitung u. in diesem Zusammenhang eine intensive Mitwirkung von Betroffenen an Entwicklung u. Umsetzung von Maßnahmen« (Bd. IV, 182).

Aus diesen, wie überhaupt aus den meisten Artikeln, wird deutlich, dass das Kirchen- und Religionsrecht trotz verfassungsrechtlicher Konstanz vielfältige Veränderungen aufweist. Der wawchsende religiöse Pluralismus ist dabei nur einer der wirksamen Faktoren. Die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft und veränderte rechtliche Gewichtungen, wie sie etwa durch die europäische Rechtsprechung ausgelöst werden, üben Druck auf das Kirchen- und Religionsrecht aus. Aber nicht zuletzt sind es die religiösen Individuen selbst, die die vom Religionsrecht ermöglichten Freiräume ausschöpfen und dadurch selbst an dessen Gestaltung beteiligt sind. Über dessen derzeitigen Stand informiert dieses Lexikon auf hohem Niveau.