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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

864–865

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Droege, Michael, Frisch, Michael, Haag, Norbert, u. Jürgen Kampmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

100 Jahre Kirchenverfassung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XI, 186 S. = Untersuchungen über Recht und Religion, 1. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783161608780.

Rezensent:

Wolfgang Schöllkopf

Es gibt innerhalb der insgesamt 20 Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland noch vier, in denen in modifizierter Form die Kirchenverfassung vom Ende des landesherrlichen Kirchenregiments gilt: Anhalt, Bremen, Pfalz und Württemberg. Zum einhundertjährigen Verfassungsjubiläum in Württemberg erschienen hier die Vorträge eines Symposiums, die diesen spannenden Zeitenumbruch detailliert darstellen. Zugleich eröffnet dieser gelb leuchtende Band die neue Reihe »Untersuchungen über Recht und Religion« im Verlag Mohr Siebeck, die die Forschungen des gleichnamigen Tübinger Universitätsinstituts präsentieren soll.

Gibt es eine Kirche ohne König? Diese protestantische Frage nach der Revolution von 1918 und dem Ende der Einheit von Thron und Altar erörtern vier Beiträge der Herausgeber. Zuerst stellt Norbert Haag, der Leiter des landeskirchlichen Archivs in Stuttgart, die zeitgeschichtliche Konstellation vor und konzentriert seine Sicht auf die protestantischen Milieus, in deren Repräsentanz die Frauen ebenso fehlten wie die Arbeiter. An der Stuttgarter Vorstadtgemeinde Feuerbach wird dies exemplarisch und statistisch aufgezeigt. Interessante Wortbildungen gilt es da zu entdecken, vom »ausgeflaggt« (10) bis zum Wortungetüm des »mainstream-Protestantismus« (21).

Es folgt der Beitrag von Michael Droege, Lehrstuhlinhaber für Kirchenrecht der juristischen Fakultät der Universität Tübingen, der die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen beschreibt. War das landesherrliche Kirchenregiment nicht ein »unsicherer Grund« (23) für den Auftrag der Kirche? Ist die »Volkskirche« dem nicht gemäßer? Sprechend deutlich wird in diesem Wandlungsprozess die preußische Dominanz, auch in den hier zitierten Quellen! Die Veränderung vollzog sich in Württemberg nicht revolutionär, sondern evolutionär. Droege erörtert ausführlich die Bedeutung der Einrichtung einer »Körperschaft des öffentlichen Rechts« (37) mit Staatsnähe und gesellschaftlicher Relevanz, gegen die Privatisierung von Religion. Dennoch »fremdeln« – ein hier mehrfach passender Ausdruck! – auch die Schwaben mit Weimar und seiner Demokratie.

Als Nächstes schildert Jürgen Kampmann, Tübinger Ordinarius für Neuere Kirchengeschichte und Kirchenordnung, den Entstehungsprozess der neuen Kirchenverfassung und zeigt »divergierende Deutungen« auf (47). Dabei erleichterte den Übergang in Württemberg die weise Vorbereitung des Monarchen, der sein Kirchenamt mit hoher Identifikation versah. Kampmann verweist auch auf ein Problem mit Dauerwirkung: Die Ebene der Kirchengemeinden und Kirchenbezirke ist nach der neuen Ordnung strukturell nicht repräsentiert, seit die Synode für die Gesamtheit der »Kirchengenossen« (57) steht.

Der letzte im Quartett ist Michael Frisch, juristischer Oberkirchenrat in Stuttgart, der den Verfassungstext, den er bis zum letzten Jota kennt, in einem Gesetzeskommentar auslegt. Der Artikel ist zwar der längste (61–141!), aber gut zu lesen, denn er besteht großenteils aus gelehrten Anmerkungen. Aber im Fließtext stecken spannende Deutungen, wenn etwa die Aufgaben der Leitung und Verwaltung im Oberkirchenrat »nicht streng getrennt, aber unterschieden« (107) gedeutet werden, ist dies doch eine Grundkategorie der Theologie Luthers. Diese wird im Weiteren gar als Maßstab benannt, allerdings als »Rechtstheologie« (135.141), ein ungewöhnlicher Begriff des Nestors des Kirchenrechts Martin Heckel. Schwäbisch gediegen wirkt auch der Hinweis auf den Verzicht auf »Pathosformeln« (119), oder ein ebensolcher auf die »Regelungstiefe« (122), die interpretatorische Freiheit lässt.

Auch hier, wie schon in den anderen Beiträgen, verlangt die Bedeutung und Zuordnung der drei Verfassungsgrößen Synode, Konsistorium und Kirchenpräsident (Landesbischof) nach einer fachlichen Einschätzung. Dabei ist die Frischs sehr ausgewogen, Haag dagegen sieht die Gewichtung stark konsistorial, schwach synodal, bei weitgehenden Befugnissen des Landesbischofs (20). Kampmann verweist darauf, dass in der Zeit des Nationalsozialismus dessen Einfluss auf die damals noch schwache Synode durch ein starkes Konsistorium zurückgedrängt werden konnte (59).

Das Werk schließt mit hilfreichen Beigaben: Eine Synopse stellt den Text der Kirchenverfassung, der zuvor schon einmal in toto abgedruckt wurde (161–168), der aktuellen Fassung von 2021 gegenüber. Zudem ist eine sprechende zeitgenössische Quelle mit aufgenommen: der Vortrag »Der Verfassungsneubau der evangelischen Kirche Württembergs« (143–160), den der Tübinger Rechtsprofessor Arthur Benno Schmidt (1861–1940) 1919 vor dem Ev. Pfarrverein gehalten hat. Schon er preist die Vorteile der Volkskirche und schon er verweist auf das Problem der fehlenden Repräsentanz der Kirchengemeinden! Leider sind keine näheren Angaben zum Autor gemacht. Auch fehlen Register, die die Suche erleichtern würden. So werden diese gehaltvollen Beiträge, die auch bei der heutigen Suche nach künftigen Kirchenformen durchaus hilfreich sein könnten für die, die sich historisch orientieren, doch weitgehend dem Fachpublikum vorbehalten bleiben, wofür auch der stolze Preis dieses Büchleins sorgen dürfte.