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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

858–860

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reller, Jobst

Titel/Untertitel:

Die Anfänge der evangelischen Militärseelsorge und Soldatenfrömmigkeit. 2., erw. u. verb. Aufl.

Verlag:

Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag Berlin 2021. 316 S. m. Abb. Kart. EUR 19,80. ISBN 9783945861929.

Rezensent:

Hartwig von Schubert

Zieht der Soldat ins Feld, kann er nicht gleichzeitig in die Kirche gehen, kommt der Soldat also nicht in die Kirche, so kann doch die Kirche zum Soldaten kommen. Ebendies ist das Selbstverständnis der Evangelischen Militärseelsorge oder Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr: Kirche unter den Soldaten. Und für dieses Selbstverständnis gibt es kulturhistorisch starke Gründe. Bereits die ältesten Zeugnisse menschlicher Geistestätigkeit und Symbolisierung verbinden sich mit den existentiellen Erfahrungen von Sexualität und Fruchtbarkeit sowie von Jagd, Kampf, Krieg und Gewalt in jeglicher Form. Das gilt auch für die biblische Tradition, das Christentum und die Reformation im 16. Jh., sie bilden hier keine Ausnahme. Für protestantische Christen und ihre Freunde und Verächter stellt sich deshalb die Frage, worin ein möglicher besonderer Beitrag der Reformation für die Geschichte der Gewalt, insbesondere der organisierten und bewaffneten Massengewalt bestehen könnte. Die Geschichte des 16. und 17. Jh.s dokumentiert mit der Epoche schier endlos andauernder Konfessionskriege unübersehbar eine enorme Steigerung der Gewalt in Europa. Das Verlangen nach Bewältigung und Überwindung dieser äußerst leidvollen Erfahrungen führte maßgeblich zur Aufklärung, zur Ausbildung von Nationalstaaten und schließlich zur Säkularisierung als einer wesentlichen Signatur der Neuzeit. Richtet nun ein moderner, aufgeklärter und säkular orientierter Historiker den Blick auf Quellen aus dem unmittelbaren Zusammenhang von religiöser Praxis und kriegerischer Gewalt seit den Anfängen der Reformation, welches Bild zeigt sich dann? In der hier anzuzeigenden Studie geht es nicht nur um eine Vervollständigung der Geschichte einer Sparte evangelischer Seelsorge, sondern auch um die Frage nach ihrer Legitimität. Zunächst aber ist wie immer die Frage nach der Genese von der Frage nach der Geltung sorgfältig zu unterscheiden. Dem Kirchenhistoriker Jobst Reller gelingt das in vorbildlicher Weise.

Im letzten Abschnitt der Einleitung fasst er seine Studie bündig zusammen, so dass hier wenige Sätze reichen: Das erste Kapitel skizziert die spontanen charismatischen Anfänge, »als Ortsgeistliche oder Feldprediger kriegerische Bauernhaufen begleiteten« (27), sowie erste Beispiele institutionalisierter Militärseelsorge im Protestantismus am Beispiel Zwinglis und Herzog Albrechts von Preußen. Das zweite Kapitel widmet sich ganz der kirchengeschichtlich vermutlich singulären Lehrschrift Luthers an den Kriegsunternehmer Assa von Cramm von 1526: »Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können«. Im dritten Kapitel geht es um »die erste im größeren Maßstab nachweisbare institutionelle evangelische Militärseelsorge« (28) im Königreich Schweden und in den Ländern des Schmalkaldischen Bundes sowie um vier Beispiele einer Landsknechtsfrömmigkeit. Das mehrfach aufgelegte seelsorglich-ethische Handbuch für christliche Soldaten des »Militärsachverständigen« Leonhard Fronsperger wird im vierten Kapitel vorgestellt. Im fünften Kapitel nimmt R. den Leser mit in die Hugenotten- und niederländischen Befreiungskriege, um schließlich im sechsten Kapitel das 17. Jh. und damit den Dreißigjährigen Krieg zu erreichen mit der »Musterorganisation evangelischer Militärseelsorge unter Gustav Adolf«. Den Band beschließt eine schlüssige und zum Teil sogar bewegende Besinnung auf die Charakteristika der Anfänge protestantischer Militärseelsorge. R. stellt den bis hin zur »geistlichen Mobilmachung« (267) predigenden und lehrenden protestantischen Feldprediger dem altgläubigen eher loyalen und rituell-seelsorglich-pflegerisch tätigen Kaplan gegenüber. Zur Kontrastierung dieser Charakterisierung betont er andererseits auch die Funktion einer »Zivilisierung des Soldaten« zum »Bürgersoldaten« (268).

In der theologischen Bilanz konstatiert R. eine starke Inanspruchnahme des Alten Testamentes und der apokryphen Texte aus den Makkabäerkriegen, gelegentliche starke Zweifel an der Vereinbarkeit des Soldatenhandwerks mit dem christlichen Glauben, aber auch religiöse Praktiken magischer Art (269). Ein Abschnitt widmet sich der Frage des Widerstandsrechts und ein weiterer der generellen Bindung des Kriegsdienstes an das geltende Recht. Unterschieden wird zwischen dem zunehmend als erlaubt angesehenen Krieg zur Abwehr aufgezwungener Religion auf der einen Seite und der immer umstritten bleibenden »kriegerischen Absicherung der Evangeliumsverkündigung« zur Verbreitung der Reformation (270) auf der anderen Seite. Gibt es auch Beispiele »kritischer Solidarität« mit der Obrigkeit? Gab es »ein Bewusstsein gemeinsamer Geschöpflichkeit und Christlichkeit auch zwischen Freund und Feind« (271)? War evangelische Militärseelsorge nicht ein Widerspruch in sich selbst und insofern ein »sinnloses Unterfangen« oder doch ebenso sinnvoll wie jede Seelsorge an Menschen als vergebungs- und erlösungsbedürftigen Sündern? Auf einige solche Beispiele kann R. verweisen, er beantwortet diese Fragen jedoch bezeichnenderweise abschließend mit einem vom schwedischen Feldkonsistorium im Jahre 1631 herausgegebenen Bußgebet. Umkehr tut not! Das gilt auch heute.

R. erschließt bislang wenig oder gar nicht erschlossene Quellen, er erfasst eine große Fülle von Material, ordnet und präsentiert es übersichtlich und anschaulich. R. konfrontiert den protestanti- schen Leser insgesamt mit unbequemen Wahrheiten der eigenen Konfessionsgeschichte. Ein wahrhaft schillerndes Beispiel ist die kurze Skizze des Wirkens des lutherischen Feldpredigers Georg Wüst, der seinem Namen höchst fragwürdige Ehre machte (119). R. kennt sich offensichtlich umfassend aus im gegenwärtigen militär- und kirchengeschichtlichen Forschungsstand, den er in seinen Fußnoten und im Literaturverzeichnis dokumentiert und den er bei späterer Gelegenheit gerne einmal in einem Literaturbericht zum kulturgeschichtlichen Einfluss des frühen Protestantismus auf den Umgang mit bewaffneter Massengewalt präsentieren sollte. Hugo Grotius beispielsweise als einer der Väter des Kriegsvölkerrechts wird an einer Stelle kurz erwähnt (269), hier möchte der Rezensent gerade um der von ihm einleitend eröffneten Perspektive willen gerne mehr erfahren. Aber das wäre ein weiteres Buch, das sich übrigens an eine umfassende Sammelrezension von Volker Stümke zum Thema Religion und Gewalt (Theologische Rundschau 84) anschließen könnte. Angesichts des Schattendaseins der Militärgeschichte im Kreis der deutschsprachigen Historiographie ist es bereits ein großes Verdienst R.s, überhaupt den gewagten Versuch zu machen, frühneuzeitliche Militärgeschichte und evangelische Kirchengeschichte in ihrem direkten Zusammenhang zwischen 1517 und 1648 zu erforschen. Und der engagierten Verlegerin Carola Hartmann gebührt Dank dafür, dass sie die Studie in ihr Verlagsprogramm aufgenommen hat. Eine möglichst lückenlose Fortsetzung dieser Betrachtung bis in die Gegenwart harrt ihrer Bearbeitung. Wie wäre es mit einem angemessen ausgestatteten Forschungsprojekt? Als dessen nicht zuletzt durch R.s Arbeit bekräftigte Leithypothese dürfte gelten: Die schwere Hypothek der engen Verbindung von Thron und Altar, übrigens nicht nur in Preußen, und der bis in die Gegenwart anhaltenden Agonie des protestantischen Konstantinismus wird von der evangelischen Theologie und Kirche nicht durch ihre Verleugnung und die Flucht in einen esoterischen Pazifismus abgetragen, sondern nur durch eine ehrliche Bilanz und ein konsequentes Bekenntnis zu Säkularität, zu deren Verhinderung, aber eben auch Entdeckung das reformatorische Christentum vermutlich wesentlich beigetragen hat.