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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

842–844

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Serres, Michel

Titel/Untertitel:

Das Verbindende. Ein Essay über Religion. Aus d. Franz. v. S. Lorenzer.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2021. 240 S. = edition suhrkamp. Kart. EUR 16,00. ISBN 9783518036020.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Die Liste ist lang und überaus prominent besetzt: Derrida ging auf Capri den beiden Quellen der Religion nach, nämlich ethos & cultus; Vattimo störte sich an metaphysischen Restbeständen des Credo und löste sie hermeneutisch »reduziert« auf; Jean-Luc Nancy begab sich in jahrelange »Dekonstruktionen des Christentums«, um diesen zweideutigen Genetiv in »Anbetung« zu umspielen; Badiou und Agamben lesen die Paulinischen Briefe rückwärts und entdecken einen neuen Universalismus unter apokalyptischem Zeitdruck; Martin Walser »rechtfertigt« die Religion und hält das Fehlen Gottes gegenüber dem atheistischen Abgesang fest; »Jubilieren« können wir mit dem networker Bruno Latour, der seine katholischen Überzeugungen ohne feste Referenz religiöser Sprache in einer burgundischen Kapelle wiederentdeckt; zwischendurch ist aus Mainz zu hören, dass und warum Kurt Flasch es nicht mehr mit dem Christentum hält; Peter Sloterdijk stimmt ihm gerne zu, um von der »nutzlosen« und gerade dadurch zu sich selbst befreiten Kirche zu sprechen; die anderen Hauptstädter Holm Tetens und Volker Gerhard – bald auch Julian Nida-Rümelin – melden etwas nüchternen Einspruch an, wobei der Sinn, ja, die Notwendigkeit des Glaubens ganz unterschiedlich begründet wird; und nun liegt endlich auch vom 2019 verstorbenen Philosophen, Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker Michel Serres ein »Essay über Religion« vor, der dem »Verbindenden« gewidmet ist und eine ganz eigentümlich-meditative Form angenommen hat.

Offenbar wurde hier ein (vielleicht gar nicht so) neues Genre etabliert, das als spätreligiöse Bekenntnisliteratur nur ungenügend beschrieben wäre. Und doch haben jene Schriften – auf die von all diesen Philosophen geteilten äußerlichen Eigenschaften gehe ich hier nicht ein – etwas Konfessorisches, das in unser secular age hineingerufen wird. Bei S. können wir dazu lesen: »Die Religion meiner Jugend fehlt mir, ich bin untröstlich, sie verloren zu haben. Mit dem Kopf verloren, denn in meinem Leben und meinem Verhalten habe ich sie bewahrt. Wie kann ich dem Christentum zumindest in kleiner Münze die Schätze zurückzahlen, die meine Jugend mit Freude erfüllt haben?« (217) Wäre das Buch in Ironie und mit Humor geschrieben, könnte man diese ungeheure Frage wohl genauso lesen; doch das überall spürbare Pathos des Katholiken in der Aussicht, in den Kirchenschatz einzuzahlen, spricht eine andere Sprache.

Auch hier drängt die Zeit: »Nie brauchten wir einen wahren, abwesenden und transzendenten Gott so sehr wie heute. Nie waren wir dem so nah, nie waren wir davon weiter entfernt.« (154; ähnlich 209) Nähe und Ferne müssten hier synonym sein, wenn nicht unterschiedliche Hinsichten den Unterschied von Nähe und Distanz verständlich machen könnten. Doch S. springt schnell weiter in seinen Verallgemeinerungen und lässt uns wissen: »Die Religionen versuchen, synthetisch, eine Antwort auf diese globalen Fragen (des Klimas, der Artenvielfalt, des Bevölkerungswachstums, u. a.; HvS) zu geben. Sie stellen Bindungen und Beziehungen bereit. Noch einmal: Sie verbinden.« (222; auch 228); um dann hinzuzufügen: »Wir geistern durch diese Synthese, ohne die wir nicht wohnen könnten.« (222)

Wird hier die Notwendigkeit der Religion vertreten? Ganz so sieht es aus! Das wird jedoch nicht über Inhalte oder »wahrhaftig unwahre«, also fiktionale Wahrheiten nahegebracht (186), sondern über ein sozusagen funktionales Verständnis von Religion. Hier aber geht es nicht systemtheoretisch um Kontingenzreduktionen, sondern Religionen – S. schwankt zwischen dem Fokus auf das Katholische und generelleren Ambitionen – haben etwas inhärent Synthetisches an sich; und dies meint wiederum zwei miteinander verschränkte Momente: ein modales und ein temporales: Die religio (dazu 137) wirke allumfassend und integrativ, wobei die stete Gefahr, totalitär zu werden, drohe und umgangen werden müsse; und: Es stehe das »Ende des analytischen Zeitalters« bevor (224), so dass nun an neuen, so dringlichen Synthesen gearbeitet werden könne. In S.s Diktion: »Zerschneiden ist destruktiv, Verbinden ist konstruktiv« (225; im Klappentext aufgenommen).

Zieht man zeitgenössisch-soziologische Diagnosen westlicher (Post)Demokratien heran, ist es ja in der Tat so, dass angesichts drohender oder längst vollzogener Spaltungen in Klassen, Schichten, Orientierungen und unvereinbaren Präferenzen die Frage beantwortet werden muss, was Gemeinschaften zusammenhält (vgl. dazu Steffen Mau im Merkur vom März 2022). S. ist aber kaum an der Applikation des Glaubens angesichts dieser politisch-sozialen Brüche interessiert; auch nicht an den Ambivalenzen zwischen Religiös-Synthetischem einerseits und den Schismen, die nun gerade religiöse (Hinter)Gründe haben, andererseits. Vielmehr geht er in drei Teilen – den vertikalen Verbindungen (Gott-Mensch), horizontalen (den inter-sozialen Äquivalenten) und einer pantheistischen Vermutung zum Bösen – einzelnen Denkfiguren nach, die die synthesis der Religion verständlicher machen könnten.

Von Gott und Christus ist demnach nur selten und weithin im Zitat die Rede; vielmehr zeigt sich S. programmatisch als Religionstheoretiker und, sozusagen, als Jesuloge. Daher werden chris-tologische Kapitel wie die Inkarnation oder die zwei Naturen als »hotspots« (d. h. als vertikale Bindungen; 17 f.25 f.63) verstanden; und folglich geht es um die »heißen Quellen« der Gemeinschaft und stets um die Resultate der Religion im Humanen; nie darum, was Gott schon getan hätte oder was all dies für Ihn oder die opera trinitatis ad intra bedeuten könnte (zur »unteilbaren« Dreifaltigkeit dann aber 190).

In kleinen Textteilen, oft nicht länger als einige Sätze oder eine Seite, und doch komponiert, zuweilen in Aufzählungen, subtil beim Thema bleibend, aber ohne größeren Leitfaden geht S. seine loci durch. Nicht selten im Gespräch mit meist neutestamentli-chen Perikopen ist die thematische Auswahl vom skizzierten Hauptthema bestimmt: »Wechseln wir die Religion? Es gibt bloß noch die eine, die vom Ganzen der medialen Netze gestiftete Verbindung; und sie beraubt in ihrer Universalität und Permanenz alle anderen ihrer Wirkung.« (134) Doch anders als die eingangs erwähnten Kollegen bleibt S. weitgehend uninteressiert an den Zweideutigkeiten der Religion in »Furcht und Zittern«, in Gewissheit und Anfechtung, in ek-klesialem Zusammenschluss und ihren Exklusionen. Das dokumentiert sich auch in den dogmatischen Details: Der Gott des Monotheismus sei keine kollektive Hervorbringung, sondern bringe uns hervor (138; das erinnert an Nancys corpus); es gebe eine »Zugehörigkeitslibido« (sic.!; 168), die nicht mehr dialektisch sei, weil sie nicht mehr ausschließe: Jesus siege über Hegel! (so 170); es werde eine »heilige Familie« (172) gebildet, zumal das jüdische Denken in Abstammungen nun durch den Gedanken der alle adoptierenden Liebe beerbt werde: »Wie wird diese menschliche Verbindung aber geknüpft, wenn sie weniger das Kollektiv als vielmehr die Individuen betrifft? Antwort: durch die Frohe Botschaft, die Liebe.« (155 mit 178). Darin liege eine Tendenz zur Überwindung der Gewalt, die sich exemplarisch an der Transformation des Opfers zeige. Hier scheint mir die interessanteste Passage des Buches zu liegen: Vom Menschenopfer führe der Weg über Gen 22 zu Jona im Bauch des Fisches, mit einem »Strukturwandel« des sacrificium: »Weder Mensch noch Fisch sterben. Wie seinerzeit der Widder, so rettet das Tier den Menschen, aber stirbt diesmal nicht.« (161; kursiv im Original) Der Fisch speie das Opfer ans Ufer in einem doppelten Sieg über den Tod, so dass gegessen werden kann, ohne getötet werden zu müssen. Nicht die paulinische Parallele zwischen Abraham und Christus steht nun für die »Zeitenwende«, sondern es ist die sakramentale Prolepse Jesu durch den Propheten Jona, die nun die Metaphorik leitet (vgl. Mt 12,40; 120 f.162 f.165).
Immer wieder tauchen Seitenthemen auf, die als subtiler Subtext die Hauptsynthese kommentieren: etwa die These einer neuen Einheit von Religion und Wissenschaft als gleichursprüngliche, sich der »Sattelzeit« verdankende Formen, Gemeinschaft zu stiften; interessanterweise fungieren nach S. die drei weihnachtlichen Könige als Repräsentanten dieser Union (38–41; auch 52.230.241). Sodann scheint immer wieder die Beschwörung einer »sanfte(n) Ekstase der Mystik« durch, um sich darauf festzulegen, dass hier die vera religio beheimatet sei, zumal erst auf diesem Weg Jesus als »zweifellos reinste[r] Mensch der Geschichte« getroffen werden könnte (Zitate: 238 und 193; ferner vgl. 150.247). Und schließlich zeichnet sich bei all dem eine pantheistische (oder panentheistische) Geste ab, die Spinozas Formel umdreht: Ein natura sive Deus macht daher etwas verständlicher, warum S. nicht an einem propositionalen Glauben festhält, sondern stets von einem Glauben in … spricht (»je crois en Dieu«; 203). Hier nun ist tatsächlich einmal von Gott die Rede.

Relire et relié (so der französische Originaltitel) ist das letzte Buch des Autors, dem sich so wirkmächtige Werke wie Hermès (1969 ff.) oder Le Parasite (1980) verdanken. Und zugleich ist es sein erstes Buch; denn ganz am Ende steht »Agen 1945/Vincennes 2019«, der Geburts- und der Sterbeort. Nun hat S. bereits 1930 das Licht der Welt erblickt, woraus folgt, dass er mit etwa 15 Jahren begonnen haben muss, das Analytische zu synthetisieren, wenn wahr ist, was er mehrfach sagt: Er habe ein Leben lang an diesem Buch gearbeitet. Und so hat das Verbindende zugleich das Verbindliche eines Vermächtnisses.