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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

839–842

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seibert, Christoph, and Christian Polke [Eds.]

Titel/Untertitel:

Josiah Royce. Pragmatist, Ethicist, Philosopher of Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 277 S. = Religion in Philosophy and Theology, 112. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161598579.

Rezensent:

Hermann Deuser

An American Plato ist 1885 ein Rezensionsentwurf von Ch. S. Peirce zu Royce’ Religious Aspect of Philosophy überschrieben, und darin heißt es gleich zu Beginn, dies sei »a good introduction to Hegel […]. It differs, however, very decidedly from the dialectic of Hegel; and in its simplicity and general tone reminds us rather of the reasoning of Plato« (The Essential Peirce [1992], 229 f.).

Der amerikanische Pragmatismus und damit der Beginn einer eigenständigen Philosophie hat seine Wurzeln im Neuengland Ende des 19. Jh.s (vor allem W. James und Ch. S. Peirce; in der nächs-ten Generation J. Dewey und G. H. Mead) und dem Zeitgeist entsprechend eine Nähe und Gesamttendenz zu Naturwissenschaften und Sozialtheorien. So auch Josiah Royce (1855–1916), in gewissem Sinne bereits ein Schüler von Peirce. Er, Royce, stammte aber aus Kalifornien, zu dieser Zeit noch der Ort genuiner West-Eroberungskonflikte und gesellschaftlicher, moralischer und religiöser Krisenerfahrungen (vgl. G. Linde, 184 ff.; Anderson, 78). Dass seine Philosophie aber postum nur zurückhaltend rezipiert worden ist, liegt an zweierlei: Royce orientiert sich maßgeblich an den Schulbildungen des deutschen Idealismus, vor allem an Hegel und Schelling, und seine neue Philosophie wird im Rahmen und auf der Basis von religionsphilosophischen Fragestellungen vorgetragen, »a soteriological enterprise« (G. Linde, 189), getragen von den Achsenbegriffen Community und Loyalty. – Gerade dies hat Royce’ Schriften in den letzten Jahren wieder größere Aufmerksamkeit finden lassen und das beweist der vorliegende Sammelband, der auf eine Royce-Konferenz von 2015 (im Textbestand erweitert) zurückgeht: die Wiederentdeckung eines philosophischen Werkes, nicht zuletzt, weil es verspricht, eine doppelte Vermittlung darzustellen und zu praktizieren, einerseits zwischen Theologie und (Religions-)philosophie, und andererseits zwischen analytischen und hermeneutischen Denkgewohnheiten und Methoden (vgl. L. Nagl, 15 ff.). Die Beiträge gliedern sich in drei Gruppen: 1. das Verhältnis des Pragmatismus zum Idealismus (L. Nagl, Chr. Seibert, D. Anderson); 2. Community und Loyalty (D. A. Tunstall, A. Fili-poviƈ, M. Schlette. Chr. Polke; 3. Erfahrungen des Absoluten (R. C. Neville, G. Linde, H. Schulz, M. Wendte).

1. Die gemeinsame Basis aller Formen des Pragmatismus besteht darin, dass Begriffsbildungen auf Handlungszusammenhänge verwiesen sind, dass darin seine »kreative Kraft« besteht: »thinking as being an eminent mode of action« (Seibert, 67). Im kritischen Durchgang durch die großen Denksysteme seit und nach Kant wird Royce auf die uralte Vermittlungsfrage neu aufmerksam: Wie verhalten sich Empirisches und Geistiges ohne Selbstverlust (im Gegenüber zum Kollektiv) oder ohne Selbstisolierung (durch ignorante Selbsterhöhung) zueinander? Mit Peirce nimmt Royce das faktische Interpretationsgeschehen (Peirce: Interpretant) als unbedingten Verstehens- und Erfahrungshorizont in Anspruch, letztlich die »Community of Interpreters« (Nagl, 24); und mit Hegels Phänomenologie sind es lebenspraktische Erfahrungen in Sozial- und Individualformen, z. B. dem »unglücklichen Bewusstsein«, das die unaufgeklärten (religiösen) Spannungen zwischen Individualität und Sozialität noch nicht durchschaut. Royce verlässt aber Hegels dialektisches Verfahren, wenn es um die Aufhebung aller Erfahrung in die Realität des Begriffs geht. Sein Pragmatismus vollzieht einen »semiotic turn« (vgl. Nagl, 36 ff.), d. h. die Vermittlung von »reason and reality« ist auf ein Zeichengeschehen angewiesen (Zeichen, Objekt, Interpretant), sie ist »intrinsic relational« und ermöglicht dadurch, die gegebene Struktur der Realität zugleich mit dem Beachten des Abgründigen zu denken, was Handlungs- und Willensfreiheit nicht in einer abstrakten Systematik untergehen lässt (Seibert, 61; zu Schelling in diesem Zusammenhang: Wendte, 263). Es ist D. Anderson, der aus dieser Konstellation die existentiellen Konsequenzen für eine philosophische Einstellung zieht, nicht über die Alltagsrealität der Menschen hinweg zu philosophieren, sondern einzuräumen: Es ist die »Endlichkeit menschlichen Philosophierens«, die von ihren Vertretern verlangt, weder »Gott, noch das Absolute, noch transzendentale Egos« zu sein. In Demut müssen wir anerkennen, dass wir »unvermeidlich Fehler machen« (Anderson, 81). Royce’ pragmatistisches Verhältnis zu Kant, Hegel und Schelling gewinnt aus deren Anerkennung produktiv-kritische Motive, um die mechanistischen und empiristischen Weltanschauungen seiner Zeit zu relativieren.

2. Die Lebensgestaltung zum Guten, die immer Gefährdungen von außen wie von innen ausgesetzt bleibt, ist die Quelle der nicht zu umgehenden Fragen nach dem Grund von allem, durchaus und gerade eine Metaphysik auf Grund von Erfahrungen (wie es auch Peirce vertreten hatte), und diese entwickeln sich in der universalen menschlichen, allem schon vorausliegenden Bedingung der Gemeinschaft; darin wirksam eine Pluralität von Formen: Gesellschaft, Familie, Gemeinde etc. (vgl. Polke, 140 f.). Ist community als allgemeiner Begriff schon zugänglich, bevor er metaphysische Bedeutung gewinnt, so hat loyalty eine eigene Prägung gewonnen, ist schwerer zu übersetzen (oder unübersetzt gelassen). Aus anthropologischen, ethischen und religiösen Gründen wird die Relation eines Menschen zu seinem (jeweiligen) Grund (cause), d. h. die Beziehung zu Gegenständen, Personen, Institutionen als Loyalty (Treue) ausgezeichnet (vgl. Tunstall, 96 f.); zusätzlich wird eine reflektierte Form gebildet: »loyalty to loyalty« (vgl. Schlette, 136). Was dabei in und mit den Beteiligten geschieht, hat Mead als Theorie des Selbst analysiert, das sich selbst im Anderen wahrnimmt (vgl. Filipoviƈ, 109 ff.). Moral und Religion entwickeln so in gleicher Weise Prozesse der ineinanderliegenden Sozialität und Individualität, deren Symbolisierungen auf das Universale ausgreifen: die »supra-individual validity of moral standards« in der »unlimited Community« – und »Loyalty is the Will to Believe [W. James] in something eternal« (vgl. Royce, zit. bei Filipoviƈ, 116 ff.). Bemerkenswert ist, dass die Bedeutungen von Community und Loyalty nicht allein als rationale Sozialtheorie zu verstehen sind, sondern sie haben zu tun mit »emotions, devotions, will, and capacity to imagine« (Polke, 144). Hinzu kommt, dass der Gemeinschaftsgedanke in den USA von den ersten Einwanderern her durch die puritanische Theologie des Bundes geprägt war, was die politischen und rechtlichen Denkbedingungen betraf; und der Sündenbegriff gewinnt eine konkrete Bedeutung als Vertrauensbruch in der Loyalität zum Gottesbund wie zur lebensweltlichen »loyal community« (Polke, 148–151).

3. Bleibt die Frage nach der Wirklichkeit selbst, Gott oder das Absolute, das sich in der Interpretationsgemeinschaft, in Loyalität, Sozialität und Individualität darstellen und erfahren lässt. Ist eine höhere, andere Wirklichkeit, eine letzte Realität oder Einheit gemeint, wie die metaphysische Tradition lehrte, die aber angesichts des modernen Kontingenzdenkens mit der Schöpfungsvorstellung neu diskutiert werden muss? Royce’ Pragmatismus jedenfalls hat in diesem Punkt Schwierigkeiten, seine praktische Philosophie theoretisch zu begründen (Neville, 168 f.174 ff.). Das liegt vor allem daran, dass Royce, der sich in seiner Spätphilosophie Peirce verpflichtet weiß, Peirce’ kategoriale Semiotik nicht übernimmt, d. h.: Die Community im idealen Fall ist eine der Verständigung und hat nicht die Funktion des Interpretanten im triadischen Zeichenmodell (vgl. Linde, 195 ff.). Es sind die Zeichenqualität und vor allem der empirische Aspekt, die Indexfunktion der Zeichenprozesse, die Royce nicht eigens aufnimmt, der »Outward Clash«, wie es Peirce in der Rezension An American Plato pointiert zum Ausdruck bringt. Von Royce’ Idealismus kann dann eher im Blick auf Platos Dialoge als für Hegels Logik die Rede sein: Royce »does not transform the concept of a mind being addressed by another into the concept of interpretant […]. Instead, he strives to retain the irreducible individuality, or irreplaceability, of the communicating partners« (Linde, 195).

Konsequent aber hat Royce theologische Themen aufgegriffen, herausragend das Theozidee-Problem. Die kritische Analyse zeigt, dass gegenüber dem »radikal Bösen« jede Theodizee in ein »unauflösbares Dilemma« gerät (Schulz, 238). Doch Royce stellt sich mutig dem »Problem of Christianity«, der Wirklichkeit des Absoluten in »paradoxen« Situationen: »The eternal world contains Gethsemane« (Royce, zit. bei Schulz, 230.246). – In allem liefert Royce eine respektable Religionsphilosophie, die auf anthropologischer Basis (Community, Loyalty, Interpretation) das Denken des Absoluten nicht aufgeben will (vgl. Wendte, 255 f.). »We observe that Schelling is the completion (Vollendung) of idealism and that Royce is his brother in S/spirit« (Wendte, 265).