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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

837–839

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Roth, Gerhard

Titel/Untertitel:

Über den Menschen.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2021. 368 S. Geb. EUR 26,00. ISBN 9783518587669.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Dieses Buch im Einzelnen summarisch darzustellen, würde keinen Sinn machen, denn die Pointe bei Gerhard Roth ist ein weltanschaulicher Materialismus, der sich auf undurchschaute Weise mit der Wissenschaft verquickt. Diese Verquickung würde uns entgehen, wenn wir uns im Einzelnen verlieren würden. Es versteht sich von selbst, dass wir die gesicherten wissenschaftlichen Ergebnisse nicht bestreiten wollen, sondern nur diese trübe Mischung.

Wie auch sonst in seinen Büchern, so vertritt R. auch hier einen weltanschaulichen Materialismus. Sollte dieser begründbar sein, so müssten wir zuerst einmal wissen, was ›Materie‹ ist. R. bemerkt zu Recht, dass sich der Materiebegriff in der Quantenphysik aufgelöst habe, also bestimmt er ›Materie‹ als das, was den physikalisch-mathematischen Gesetzen genügt.

Das ist ungefähr so, als würden wir sagen »Buch ist, was die Menschen lesen« oder »Pferd ist das, worauf der Reiter sitzt«. Das sagt nichts. Darüber hinaus müssen wir doch unterstellen, dass die Realität Anteil an den idealen Konstruktionen der Mathematik hat, so dass sie selbst ein ideales Moment enthalten muss. Das ist der Grund, weshalb viele Physiker Platoniker waren oder sind, und selbst ein Hardliner wie Quine bekennt sich bezüglich der Mathematik und der formalen Logik zum Platonismus.

Es würde zu weit führen, alle Ungereimtheiten, die R. von anderen materialistisch eingestellten Autoren übernommen hat, aufzuzählen. Dazu gehört die Unklarheit von Grundbegriffen wie ›Kausalität‹, ›Gesetzlichkeit‹ oder die ›kausale Geschlossenheit der Welt‹. Keine Wissenschaft ist voraussetzungslos, aber ihre Voraussetzungen liegen ihr, wie wir seit Kant wissen könnten, ›im Rücken‹, sind ihrer Binnenlogik also nicht zugänglich.

Die Zusatzprämissen, die Naturwissenschaft in eine materialistische Instanz verwandeln, sind zumindest zwei: 1) ein stilisierter Gegner, mit dem man leichtes Spiel hat, und 2) die Auffassung, dass zwischen Kontinuität und Diskontinuität ein Ausschließlichkeitsverhältnis herrscht.

Ad 1): Der Materialist, der sich aber etwas vornehmer ›Naturalist‹ nennt, kennt als Gegner nur den Supranaturalisten oder den Substanzendualisten. Für den Substanzendualisten ist der menschliche Geist transzendent, d. h. er schwebt über den Wassern wie ein Engel, der von der Materie nicht weiter berührt wird. Daher R.s ständiger Verweis auf Plato, Descartes, Popper oder Eccles. Gegen solche Dualisten hat er leichtes Spiel: Sie können nicht erklären, wie der weltenthobene Geist dennoch in der Welt wirksam sein könnte, wenn er doch immateriell ist.

Die Alternative zum Substanzendualismus wäre allerdings eine Position, die von Aristoteles bis Hegel Geist und Materie immer nur in Verschränkung kennt, niemals separiert, und diese Position reicht bis in die Gegenwart. Der Heidelberger Mediziner und Philosoph Thomas Fuchs hat in einem einflussreichen Buch das Gehirn als »Beziehungsorgan« beschrieben. Das heißt aber: Das Gehirn ist kein ›Ding an sich‹, sondern es ist eingelassen in einen Leib und dieser ist eingelassen in dialogisch-soziale Verhältnisse, wobei beide positiv-wissenschaftlich gar nicht beschrieben werden können. Auch nicht der Leib, denn er ist mehr als ein objektivierbarer Körper. Solche Autoren ignoriert R. als seine eigentlichen Alternativen. Sie würden seine Position sofort fraglich machen.

Ad 2): Gravierender noch ist die zweite Prämisse, die er ohne Überprüfung als gültig unterstellt, dass sich nämlich Kontinuität und Diskontinuität notwendig wie A und non-A verhalten. Das ist zwar manchmal der Fall, sicher aber nicht durchweg. Wenn nun der Mensch nach Darwin kontinuierlich aus der Evolution der Primaten hervorgegangen ist, wenn wir zu allen Kompetenzen des Menschen präludierende Eigenschaften bei den Primaten finden, dann scheint zu folgen, dass auch der Mensch nur ein Tier ist unter Tieren. Er hat keine Sonderstellung in der Natur: Der Mensch kann besser denken, der Adler besser fliegen, der Affe besser klettern und der Maulwurf besser graben. Jeder kann etwas, je nach Umweltbedingungen, und keiner ragt mit besonderen, diskontinuierlichen Eigenschaften hervor. Es ist aber leicht zu sehen, dass es beim Menschen keinen Sinn macht, Kontinuität gegen Diskontinuität auszuspielen.

Ich war einstmals ein Baby, dann ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener und werde dermaleinst ein Greis sein. Alle diese Lebensalter gehen kontinuierlich ineinander über. Würde ich deshalb auf die Idee kommen, dass ich immer noch ein leicht modifiziertes Kleinkind bin? Wenn die Nacht kontinuierlich in den Tag übergeht, vermittelt durch die Morgendämmerung, die den Übergang bildet, würden wir dann glauben, der Tag sei nichts als die Fortsetzung der Nacht mit anderen Mitteln?

Auch in der Evolution ist das so: Zwischen der präbiotischen Entwicklung, beschreibbar durch Physik und Chemie, und dem Lebendigen gibt es ein offensichtliches Kontinuum. Aber spätestens seit Ernst Mayr wissen wir, dass das Lebendige zu seiner Beschreibung völlig neue Kategorien benötigt, die in der Physik noch nicht enthalten sind (was übrigens R. merkwürdigerweise anerkennt). Zwischen der präbiotischen und der organischen Entwicklung gibt es also sowohl ein Kontinuum als auch einen Bruch.

Der Darwinismus beruht auf zwei Voraussetzungen: einer Knappheit der Ressourcen und einem Überangebot an Nachkommen. Man muss aber nur in einen Supermarkt gehen, um zu sehen, dass hier von einer Knappheit der Ressourcen nicht die Rede sein kann. Und ein ›Überangebot‹ an Nachkommen gibt es auch nicht, wenn in Deutschland eine Frau im Durchschnitt nur 1,4 Kinder hat. Ohne Asylanten würden wir aussterben! Wie kommt es, dass die kontinuierliche Evolution ihre eigenen Voraussetzungen außer Kraft setzt, und welchen Sinn sollte es dann machen, den Menschen als Tier unter Tieren zu interpretieren?

Das Resultat dieser Überlegungen ist eindeutig: Wir dürfen Kontinuität im Bereich des Menschlichen nicht gegen die Diskontinuität des Neuen ausspielen. Es gibt echte Emergenz (was immer das sein möge). Aber dann bricht die materialistisch-weltanschauliche Deutung der Naturwissenschaft insgesamt, allein aus diesem Grunde, zusammen.

Vielleicht nur noch der Hinweis auf einen charakteristischen Zirkel, der überall in der Neurowissenschaft auftritt: Der Neurowissenschaftler kommt nicht weiter, wenn er immer nur das Gehirn untersucht, sondern er muss unabhängig davon wissen, was der Proband denkt, will, beabsichtigt oder fühlt. Erst dann kann er das neuronale Korrelat ausfindig machen. Das heißt doch aber, dass er vom »Reich der Gründe« Gebrauch machen muss, das allererst das »Reich der Ursachen« konstituiert, so dass beide nicht identifiziert werden können, wie R. unterstellt. Das aber führt zu einem hierarchischen Verhältnis beider, das doch von vornherein ausgeschlossen werden sollte.

Bei R. finden wir zugleich beide Behauptungen: Einmal ist das Gehirn für ihn nicht nur notwendig, sondern zugleich hinreichend für den Geist im Sinn einer Identitätstheorie, dann schränkt er das Bedingungsverhältnis wieder ein, dass wir nämlich auch eine logisch unabhängige Psychologie als gültig unterstellen müssten. Der Widerspruch wird durch den materialistischen Systemzwang hervorgerufen. Dieser impliziert, dass alle Erklärungen ausschließlich ›von unten nach oben‹ laufen, während der reale Forschungsprozess immer zugleich in der Gegenrichtung verläuft.

Die Naturalisierung des Menschen scheitert. Kultur ist nicht nur Natur, obwohl immer mit Natur vermittelt.