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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

833–835

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lévi-Strauss, Claude

Titel/Untertitel:

Strukturale Anthropologie Zero. Hg. u. m. e. Vorwort v. V. Debaene. Aus d. Französischen v. B. Schwibs.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2021. 392 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 34,00. ISBN 9783518587652.

Rezensent:

Marcus Dick

Obgleich seit den 80er Jahren der diskrete Charme eines schwachen Denkens zahllose Geistes-, Kultur-, Sozialwissenschaftler betört hat: Die Nachricht vom Tod gewichtiger Groß- oder Supertheorien war immer stark übertrieben. Die momentan gängigste Supertheorie ist Luhmanns System-Modell. In mehr als einer Hinsicht eine soziologische Weiterführung dessen, womit Claude Lévi-Straussʼ Strukturalismus bereits in der Mitte des 20. Jh.s reüssierte: ein ambitionierter, Fach- und Diskursgrenzen überwindender Versuch, das Soziale als differentielles System diesseits binärer Strukturen und Codes zu begreifen. L.-S.’ Hauptwerk sind die 2000-seitigen Mythologiques (1964–1971), einflussreicher indes waren jene zwei als Strukturale Anthropologie bezeichneten Sammelbände von 1958 und 1973 – einflussreicher, da hauptverantwortlich für eine fast modeartige Ausbreitung des Strukturalismus. Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, wenn 50 Jahre nach dem zweiten Band ein dritter erscheint – der jedoch nicht als Strukturale Anthropologie III, sondern als Strukturale Anthropologie Zero firmiert.

Das Zero besagt, dass es sich nicht um Texte handelt, die chronologisch und inhaltlich dort weitermachen, wo die Strukturale Anthropologie II aufhört, sondern um eine Art Prequel: eine Sammlung unbekannter(er) früher Aufsätze, die, so Herausgeber Debaene, »eine Vorgeschichte der strukturalen Anthropologie« (11) offenlegten. Debaene – Literaturwissenschaftler, mitverantwortlich für die L.-S.-Edition in der Bibliothèque de la Pléiade – plädiert im umfangreichen Vorwort (7–63) dafür, seine Auswahl als Beleg dafür zu nehmen, dass der reife Strukturalismus, dessen Entpuppung 1958 mit der Strukturale Anthropologie I abgeschlossen war, »nicht das Ergebnis einer ihm innewohnenden theoretischen Kraft ist, die sich trotz der Hindernisse und Widerstände schließlich durchsetzte; sie war im Gegenteil möglich geworden durch eine Arbeit der Rekonstruktion, Auswahl und des ›Vergessens‹ bestimmter reflexiver Dimensionen« (32). Die nun zu einer Strukturale Anthropologie Zero gebündelten Texte sollen zeigen, wie und weshalb L.-S. jene Arbeit der Rekonstruktion usw. vorgenommen habe. Debaene folgt dem Aufbau der kanonischen Strukturale Anthropologie I; wie sie enthält die Strukturale Anthropologie Zero 17 Beiträge in fünf Kapiteln. Freilich erreicht weder das fachwissenschaftliche noch das allgemeine Reflexionsniveau der hier kombinierten, zwischen 1942 und 1949 geschriebenen Artikel die Höhe jener Untersuchungen, die wir in den kanonischen Bänden finden. L.-S. wird Gründe gehabt haben, sie nicht in seine Hauptwerke aufzunehmen. Ausschussware also? Keineswegs! Doch Debaenes Argument, die Strukturale Anthropologie Zero ermögliche es, »das theoretische Projekt und den Sinngehalt [des Strukturalismus] besser zu erfassen« (18), sollte cum grano salis verstanden werden.

Alle Texte datieren in die Zeit des Exils und der Remigration (L.-S. lebte von 1941 bis 1948 in den USA). Das Zero verweise nicht zuletzt darauf, dass es als Terminus – vgl. etwa den Begriff der Stunde Null – »widersprüchliche historische Konnotationen kristallisiert, in denen […] Wiedergeburt und Wiederbeginn, aber auch Schrecken und Undenkbares zum Ausdruck kommen.« (63) Das mag stimmen. Dennoch wirkt es eher wie ein diskursiver Kniff, der Textauswahl eine innere Kohärenz anzuzaubern, als dass es sich aus den versammelten Arbeiten ableiten ließe. Nicht ganz falsch ist, dass sie zum Teil, also anders, als man es vom älteren, stets melancholisch-desillusionierten L.-S. kennt, einen politischeren, vergleichsweise optimistischen Autor präsentieren. Darin liege, so Debaene, eine weitere bzw. die Hauptbedeutung des Zero: der Null- als Ausgangspunkt, der später im Zeichen eines »tragischen Bewußtsein[s] davon, daß die Zivilisation ihre eigene Vernichtung in sich trägt« (ebd.) revoziert worden sei. Das »Vergessen bestimmter reflexiver Dimensionen« meint diesen freiwilligen Verzicht auf politische und Zukunftsträume angesichts einer »Analogie zwischen dem eigenen Schicksal des überlebenden Juden und dem des von der westlichen Moderne vernichteten Indianers« (60). Was der Strukturalen Anthropologie Zero vor allem ihre Berechtigung gebe, sei der Umstand, dass diese während bzw. kurz nach der Emigration entstandenen Texte noch von der Vorstellung getragen würden, Geschichte schreite fort. Eine Idee, die L.-S. danach fallenlasse. Ob das genügt, Debaenes verdienstvolle Kompilation zu einer Strukturalen Anthropologie Zero zu nobilitieren und gleichsam als philologisches Kolumbus-Ei zu präsentieren, bleibe dahingestellt.

Die Kapitel fokussieren folgende Themen: Geschichte und Methode (71–151), Individuum und Gesellschaft (155–183), Reziprozität und Hierarchie (187–264), Kunst (267–290), Ethnographie Südamerikas (293–385). Nicht-Fachleute werden dem um soziologische Fachfragen kreisenden 1. Kapitel sowie den fünf Rezensionen ethnologischer Fachliteratur, die die erste Hälfte des 2. Kapitels ausmachen, weniger abgewinnen können. Der zweite Teil des Kapitels hält hingegen eine Trouvaille bereit: Die Technik des Glücks (1945, 170–183). In diesem noch immer und heute erst recht wieder erhellenden Essay fragt L.-S., inwieweit es der US-Gesellschaft gelingt bzw. misslingt, zwischen Gruppenzwang und Selbstentfaltung zu vermitteln. Seine Beobachtung: Es fehle ein »Transmissionsmodus« (181), der erlauben würde, den »doppelten Rhythmus individueller Durchlässigkeit und kollektiver Undurchlässigkeit, unter dem die amerikanische Gesellschaft lebt« (ebd.), bewusst zu gestalten (sprich: zu humanisieren). So betrachtet wären die gegenwärtigen political and culture wars Effekte jenes inzwischen vollends ins Destruktive umgeschlagenen doppelten Rhythmus. In ihren Implikationen kaum weniger relevant: Krieg und Handel bei den Indianern Südamerikas (1942, 187–210), Die Theorie der Macht in einer primitiven Gesellschaft (1944, 211–236), Die Außenpolitik einer primitiven Gesellschaft (1949, 243–264). Diese drei Aufsätze sind sozusagen das Zentrum der Strukturalen Anthropologie Zero und Debaenes Hauptbeweisstücke dafür, dass beim frühen L.-S. das »Band zwischen theoretischer Argumentation und politischer Initiative lebendig erhalten« war. (43) Der gemeinsame Zug dieser Texte besteht darin, uns unter Hinweis auf sogenannte primitive Gesellschaften für ein Verhältnis zwischen Kollektiven zu sensibilisieren, welches, anders als das »unilaterale System […], dem sich unsere Zivilisation blind verpflichtet hat« (263), ein Gleichgewicht impliziert »zwischen Wettstreit und Aggression mittels vorgängiger Mechanismen, um möglichst extreme Ausschläge in die eine oder andere Richtung abzufangen« (263). Im Gegensatz zu uns gelingt dies den indigenen Stämmen, weil und indem sie zwischen Konflikten und Tauschbeziehungen eine Kontinuität aufrechterhalten. Sie kennen »höchst komplexe Mechanismen, mit denen sich die Antagonismen und Gegensätze beilegen [lassen], nachdem diese sich geltend machen, sich äußern konnten.« (261) So schaffen es die Gruppen, die eigenen Interessen und die der jeweils anderen Partei aufeinander abzustimmen, bestehende Gegnerschaften aufzuheben. Eine Lehre, die aktueller kaum sein könnte.

Vor diesen starken Texten verblassen die restlichen etwas. Was nicht meint, dass ihre Lektüre sich nicht lohnt, sondern nur sagen will, dass ihre Inhalte und Gegenstände – indigene Kunst, ethnographische Überlegungen und Observationen – wieder eine geringere Gegenwartsrelevanz besitzen. Für an L.-S. Interessierte ist die Strukturale Anthropologie Zero obligatorisch. Wer einen Einstieg in L.-S.’ Kosmos sucht, dürfte mit dem wunderbaren Band Wir sind alle Kannibalen (Berlin 2014) besser bedient sein. So oder so: Wie jedes L.-S.-Buch bietet auch die Strukturale Anthropologie Zero genug Stoff für alle geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Spezialisten.