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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

829–831

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Helmut Thielicke und die »Zeitschrift für Evangelische Ethik«.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XI, 611 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 10. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783161541780.

Rezensent:

Karl-Heinrich Fix

Wissenschaftliche Zeitschriften bieten von ihrer Gründung an tiefe Einblicke in die Netzwerke der Akteure, in wissenschaftspolitische Intentionen und Frontstellungen, in Trends der For- schung. Dennoch wurden evangelisch-theologische Fachzeitschriften – sieht man von den anders gearteten Studien von C. Markschies über Kirchenhistoriker als Herausgeber der ThLZ (2021) oder vom Sammelband zum Jubiläum des Vereins für Reformationsgeschichte (2008) ab – noch nicht eingehend untersucht. Bislang sind oft Registerbände das Maß der Dinge. Friedrich Wilhelm Graf, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, legt nun erstmals die »Biographie« einer Zeitschrift vor: der erstmals im Januar 1957 erschienenen »Zeitschrift für Evangelische Ethik« (ZEE).

G.s – zunächst so nicht beabsichtigte – Studie soll über die »interdisziplinäre[n] diskursive[n] Konstellationen in den akademischen Milieus des protestantischen Westdeutschland« und den Wunsch der theologischen Ethik-Experten »nach konkreter Gesellschaftsanalyse und ihre um einer besseren, gerechteren, humaneren Gesellschaft willen formulierten Beschwörungen gebotener Interdisziplinarität« im Kontext der Biographien der Herausgeber und Autoren informieren (V). Deutlich wird auch, dass diverse Theologen mit ihrer Mitarbeit beweisen wollten, dass sie nach ihrer früheren positiven Haltung zum Nationalsozialismus nun aktiv an der Stärkung theologischer Ethik in der »modernen Gesellschaft« mitwirkten.

Einleitend geht G. auf die oberflächliche Darstellung der ZEE-Gründungsgeschichte anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums im Jahr 2006 und die unbefriedigende Quellenlage ein. Methodisch orientiert er sich an Lutz Raphaels Studie zu »Geschichte und Gesellschaft« aus dem Jahr 2000 und dessen These von der Verwissenschaftlichung des Sozialen. Von Lucien Febvre übernimmt er die Unterscheidung von »gelassenen« und »nervösen« Zeitschriften (9).

Im ersten, biographischen Teil beschreibt G. die internationale gesellschaftliche und mediale Bedeutung des »Startheologen« Thielicke, der als weltzugewandter Beobachter sich die protestantischen Überlieferungsbestände für die konstruktive Bearbeitung der Herausforderungen und Probleme der Gegenwart fruchtbar machte und gerne die Rolle des Sinndeuters in den Krisen der Moderne einnahm. Thielickes Lebensweg (15–170) beschreibt G. aufgrund einer Fülle ausgewerteter Literatur im Kontext der zeitgenössischen Kirchen- und Theologiegeschichte sprachlich dicht und in stetiger kritischer Auseinandersetzung mit der Literatur zu Thielicke und seinen Zeitgenossen. So entsteht im Kontext der den Protestantismus der Nachkriegszeit prägenden Debatten das Bild eines reflektierten Repräsentanten des »demokratischen Konservatismus« (166). Thielicke habe »entschiedenes christliches Bekenntnis, Traditionsbewusstsein, Ideologiekritik und Sinn für pragmatische Kompromissbildung zu einer Position ethischen Denkens verbunden, in der die Deutung modernitätsspezifischer Konflikte und Widersprüche sehr viel flexibler war«, als man es bei einem Konservativen vermute (169 f.).

Im zweiten Kapitel (171–269) analysiert G. die Gründungsgeschichte der ZEE, bei der drei Motive dominierten: Es galt, ein Gegengewicht zu den katholischen Ethik-Debatten zu schaffen und das wachsende Interesse an ethischen Fragestellungen aufgrund der Arbeit der Evangelischen Akademien zu befriedigen; der ethische Diskurs sollte nicht allein Karl Barth und seinen Gefolgsleuten überlassen werden. Daher war auch Emil Brunner Thielickes erster Ansprechpartner für seinen Plan. Brunner folgten so illustre Namen wie Theodor Heuss, Reinhold Niebuhr, Paul Tillich und Walter Strauß. Die Schriftleitung sollte Wolfgang Schweitzer übernehmen. Ihnen und dem angedachten Herausgeberkreis widmet G. jeweils eine eigene biographische Miniatur.

Das umfangreichste dritte Kapitel (271–535) bietet eine inhaltliche Analyse der einzelnen Jahrgänge der ZEE und deren personeller Struktur. Dem ersten Jahrgang widmet G. verständlicherweise nicht nur vom Umfang her sein Hauptaugenmerk. Er betont das Interesse der Herausgeber, »Debatten zu provozieren und ethische Dissense sichtbar zu machen« (303). Deutlich bei der Darstellung wird aber auch G.s Freude an der Verbindung von Analyse und biographischen Details, was u. a. dazu führt, dass er einem neunseitigen Aufsatz von Ulrich Scheuner über den Staat selbst 20 Druckseiten widmet (310 ff.).

Beim Blick auf die Jahrgänge 2 bis 5 aus den Jahren 1958 bis 1963 (439–484) verzichtet G. – außer bei Dietrich van Oppen (452–458) – auf die Autorenbiographien. Neben einer großen Kontinuität bei den Autoren fielen als thematische Schwerpunkte auf: die »Atomfrage«, der Streit über die »Dauerreflexion« und der »Institutionenbegriff«. Aus der Medizinethik sind es die künstliche Befruchtung, der Schwangerschaftsabbruch und grundsätzliche Fragen der Gesundheit. Thielickes Wunsch nach der Beschäftigung mit der Ideengeschichte protestantischer Ethik erfüllen u. a. Aufsätze zu Albert Schweitzer, Friedrich Naumann und Karl Barth. Beiträge zum Scheitern der Weimarer Republik und zum Verhältnis von Theologie bzw. Kirche und Nationalsozialismus finden sich – wenig überraschend – nicht. Insbesondere außerdeutsche Theologen arbeiteten sich am Problem eines positiven evangelischen Verhältnisses zur Demokratie ab.

Dem Inhalt und den Autoren der Jahrgänge 6 bis 10 (richtig: 13) (488–520) und den neu eingetretenen Herausgebern widmet sich G. unter Rückgriff auf generationstheoretische Fragen. Bei diesen Jahrgängen konstatiert er eine größere positionelle Vielfalt und eine breitere Basis männlicher Autoren. Frauen suchte man auch in der ZEE weithin vergeblich, obwohl Christine Bourbeck seit 1960 den Besprechungsteil verantwortete. Helmut Thielicke vermochte sich, wie er im November 1969 deutlich machte, aus persönlichen (gekränkte Eitelkeit) und inhaltlichen Gründen (Dominanz gesellschaftswissenschaftlicher Ansätze über theologische in den Beiträgen) nicht mehr im nötigen Maß mit der ZEE identifizieren. Andere Gründe waren die geringe Abonnentenzahl und Zweifel an der Überzeugungskraft des Zeitschriftentitels. Hier boten ihm Verlag und Mitherausgeber jedoch Paroli.

Abschließend fragt G., ob die ZEE zur »Westernisierung« des bundesdeutschen Protestantismus beitrug (521–531). Er konstatiert den Willen, die westdeutsche protestantische Theologie aus der 1933 einsetzenden Isolation herauszuführen. Obwohl sich die ZEE zum Forum des Austausches zwischen Theologen und »kirchennahen Intellektuellen« (525 f.) entwickelte, sei sie wegen der nur begrenzten Rezeption »westlicher« Theologien kein »Ort erfolgreicher ›Amerikanisierung‹« oder »zur diskursiven Bühne einer verstärkten ›Westernisierung‹« geworden. Beispielhaft für diesen asymetrischen »theologischen Ideentransfer« stehe Paul Tillich, der trotz seiner Mittlerrolle vor allem deutsche theologische Denkformen in die USA transportiert habe. Umgekehrt lasse sich eine Öffnung der ZEE für die parlamentarische Demokratie durch die in ihr vertretenen Autoren aus den USA nicht nachweisen.

Der Quellenanhang (537–588) bietet 28 lesenswerte Bilder, Briefe und Programmskizzen für die werdende ZEE. Anders als die anderen Bände der Reihe enthält das Buch kein Quellen- und Literaturverzeichnis. Da in das Personenregister auch die Namen der zitierten Autorinnen und Autoren aufgenommen sind, lässt sich die Fülle der für das Werk ausgewerteten Literatur immerhin erahnen, doch führte das gewählte Zitiersystem zu Redundanzen. G. selbst am meisten ärgern wird der Fehler auf S. 91. Hier steht »Thieliecke«!

Über Biographisches und Wissenschaftsgeschichtliches hinaus zeigt G. die Chancen, die ein begrifflich differenzierender und interdisziplinärer Blick auf Leben und Werk eines Religionsintellektuellen eröffnet. Seiner Klage über die (Nicht-)Präsenz der evangelischen Theologie in Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik, ihrer Geistes- und Kulturgeschichte ist ebenso zuzustimmen wie dem Monitum, dass eine sachkundige Theologiegeschichte der Bundesrepublik fehle (531–535). Wer mag, wird in vorliegendem Buch viele Anregungen finden, wie dieses Projekt angelegt sein könnte.