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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

822–824

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Brechenmacher, Thomas, Kleinehagenbrock, Frank, Lepp, Claudia, u. Harry Oelke [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kirchliche Zeitgeschichte. Bilanz – Fragen – Perspektiven.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 350 S. m. 8 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 83. Geb. EUR 75,00. ISBN 9783525568668.

Rezensent:

Albrecht Beutel

In beiden konfessionell-theologischen Wissenschaften repräsentiert die Kirchliche Zeitgeschichte die jüngste Subdisziplin des Faches Kirchengeschichte. Nachdem sie sich in der deutschen Nachkriegszeit konstituiert hatte, vollzog sie in den 1990er Jahren erstmals eine gründliche fachwissenschaftlich-methodische Selbstverständigung. Dies liegt nun allerdings auch schon wieder drei Jahrzehnte zurück. Deshalb schien es den konfessionellen Parallelinstitutionen der »Evangelische[n] Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte« und der »Katholische[n] Kommission für Zeitgeschichte« angezeigt, auf einer Ende Februar 2020 in Würzburg abgehaltenen bikonfessionellen Tagung für das eigene Forschungsfeld erneut selbstreflexive Bilanz zu ziehen, aktuelle Fragen zu generieren und zukunftsträchtige Perspektiven zu entwickeln. Der vorliegende Band dokumentiert diese wichtige Konferenz, dies allerdings nicht ganz vollständig, sondern unter Auslassung dreier Tagungsbeiträge, die für den Druck nicht zur Verfügung gestellt wurden.

In der bündigen »Einführung« (9–19) erinnern Thomas Brechenmacher und Harry Oelke daran, dass sich das junge Spezialfach auf evangelischer Seite zunächst als – nicht selten apologetisch unterfütterte – »Kirchenkampfforschung«, auf katholischer Seite hingegen als »die Frage nach dem Verhalten des deutschen politischen Katholizismus im Jahr 1933« (10) etabliert hatte. Inzwischen jedoch habe sich der Forschungsauftrag nicht nur bis zu den Folgen der deutschen Wiedervereinigung chronologisch ausgedehnt bzw. aktualisiert, sondern durch den Ausgriff auf sozial- und politikwissenschaftliche Problemstellungen und Methoden auch neue Dimensionen erschlossen. Dies werde künftig, mutmaßen die beiden Mitherausgeber, die Behandlung »konfessionelle[r] Spezifika« zwar nicht alternieren, aber doch mit der Einbeziehung von »Themenstellungen […], die sich auf die Wirkung von Konfessionen, Kirchen und religiös geprägten Sozialformen nach außen, in die Gesellschaft hinein, richten« (17), entscheidend erweitern.

In seinen engagierten, die Tagung und den Dokumentationsband eröffnenden »Überlegungen zu Stand und Herausforderungen einer Disziplin« (21–32) konstatiert Thomas Großbölting insofern eine »Kehrtwende der Argumentation«, als Kirchliche Zeitgeschichte inzwischen nicht mehr primär zur konfessionellen »Selbstbestätigung«, sondern als methodisch reflektierte »Problemanzeige« (24) betrieben werde, wobei sich diese Wende freilich erst noch darin vollenden müsse, dass man sich aus der dominanten Fixierung auf kirchliche Institutionen löse und stattdessen die »Beachtung des religiösen Feldes insgesamt« (27) zur eigentlichen Aufgabe mache. Am Beispiel der aktuell gebotenen Aufarbeitung des zumal im Raum der katholischen Kirche großflächig aufgedeckten sexuellen Missbrauchs plausibilisiert Großbölting seine Forderung, die als »Problemgeschichte der Gegenwart« verstandene Kirchliche Zeitgeschichte müsse »sowohl eine stärkere binnenkirchlich-problembewusste wie auch eine gesamtgesellschaftliche Publikumsorientierung suchen« und damit nicht nur jedem Versuch einer konfessionellen Identitätsstiftung, sondern auch jeder »Instrumentalisierung […] durch die Kirchenleitungen oder durch die Gesellschaft« (30) kategorisch entgegentreten.

Die eigentliche Konferenzarbeit vollzog sich in sechs bikonfessionell besetzten Sektionen. Dabei wurden zunächst Periodisierungsfragen erörtert. Während Florian Bock in katholischer Perspektive erstaunlicherweise bis in die Zeit um 1848 zurückgreift, plädiert Siegfried Hermle in evangelischer Perspektive für einen chronologischen Startpunkt im November 1918, also mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Beide Modelle sind in der jeweiligen binnenkonfessionellen Logik durchaus nachvollziehbar, stehen aber, jedenfalls nach dem Eindruck des Rezensenten, in eklatanter Spannung zu dem von Großbölting einleuchtend ausgemachten hybriden Charakter des Faches, das »der Zeithistorikerin […] die Doppelrolle der Zeitzeugin und der distanzierten Beobachterin« zuweist: »Wir sind mindestens Zeitzeuginnen und Zeitzeugen dessen, was wir untersuchen, wenn nicht gar in so manchem Fall auch Aktivistin oder Aktivist« (24). Weshalb, mag man fragen, wurde der darin aufscheinende Widerspruch, dass sowohl für 1848 wie für 1918 längst keine Zeitzeugen mehr leben, nicht verständigungsträchtig diskutiert und der gegenwärtigen kirchlichen Zeitgeschichte im Sinne Großböltings lediglich der mit den 1950er Jahren einsetzende Geschichtsraum als Forschungsaufgabe zugewiesen?

Indem die zweite und dritte Sektion die Forschungsgegenstände bzw. die Akteure und Intentionen des Faches in Augenschein nehmen, entsteht zwischen ihnen ein Verhältnis sachhaltiger Komplementarität. Was das Erstgenannte betrifft, so gelingt es Oelke und Brechenmacher in jeweils konfessionsbezogener Perspektive, die in den Periodisierungsmodellen skizzierten Gliederungen mit anschaulicher, bedachtsam ausgewählter, sensibel interpretierter Materialfülle zu konkretisieren. Hinsichtlich der Akteure der kirchenhistorischen Subdisziplin zeigen Thomas Martin Schneider und Mark Edward Ruff eindrucksvoll und exemplarisch, wie die Kirchliche Zeitgeschichte, zumal in ihren Anfängen, weithin dem Problem positioneller Parteilichkeit unterlag und auch später gelegentlich von subjektiven Interessen geleitet oder begleitet worden ist; Schneider thematisiert darüber hinaus in aktueller Absicht die Gefahr des Faches, als kirchliche »Auftragsforschung« (vgl. 127–129) missverstanden oder missbraucht zu werden. Ergänzend zeigt Claudia Lepp anhand konkreter Fallskizzen, inwiefern »Erinnerungskultur« als Gegenstand und Teilmenge der Kirchlichen Zeitgeschichte eine reflexionsbedürftige Rolle spielt, und unterstreicht damit ihrerseits den genuin hybriden Charakter des Unternehmens: »Der Zeithistoriker sollte […] bestenfalls immer beides sein: Akteur und Analyst der christlichen Erinnerungskultur« (172).

Mit stupendem Fachwissen berichten die gelehrten kirchlichen Archivare Henning Pahl und Christoph Schmider in der vierten Sektion vom Fortgang und Nutzen der auf die einschlägigen Quellenbestände angewandten Digitalisierung und erkunden sodann, darauf bezogen, die Möglichkeit, wie sich in modernen Zeiten ein organischer, beiderseits befriedender Ausgleich zwischen Datenschutz und Forschungsfreiheit gewährleisten ließe.

Schließlich zeigen die letzten beiden Sektionen, insgesamt je-­­ weils höchst sachkundig und plausibel argumentierend, die forschungsstrategische Notwendigkeit auf, für die Kirchliche Zeitgeschichte einen interdisziplinären und transnationalen Bezugsrahmen zu schaffen. So überlappt sich das Fach mit der Praktischen Theologie wohl nicht nur, wie Maike Schult bescheiden mutmaßt, auf einem »kleinen Grenzgebiet« (205), sondern darüber hinaus gewiss auch auf breiten, beiderseits beackerten Themenfeldern. Desgleichen dürften von einem Austausch mit der Soziologie (Marc Breuer), Politologie (Antonius Liedhegener) oder Kirchenrechtswissenschaft (Sebastian Schwab) tatsächlich erhebliche Synergieeffekte zu gewärtigen sein. Parallel dazu votiert der vorliegende Band auch für eine Internationalisierung des in Deutschland entstandenen und weithin auf deutsche Phänomene beschränkten Faches, und dies ebenso bezüglich der »Post-Christian Era in Western Europe« (Hugh McLeod) wie, von Gisa Bauer magistral ausgeführt, für Osteuropa, ja am Ende sogar, wie Olaf Blaschke engagiert einfordert, im Horizont eines globalen »Internationalismus« (313).

Dergestalt – und mitsamt dem von Klaus Fitschen gezogenen kurzen »Fazit« (333–335) – präsentiert diese instruktive Tagungsdokumentation eindrucksvoll bilanzierende Analysen, stellt nützliche selbstkritische Fragen und eröffnet zukunftsweisende Perspektiven. Indessen mag man nach aufmerksamer Lektüre dazuhin vielleicht auch dem Gedanken Raum zu geben geneigt sein, dass die wissenschaftstheoretische Dignität des Faches womöglich noch optimiert werden könnte, wenn die Kirchliche Zeitgeschichte, gerade eingedenk ihres hybriden Charakters, sich ihrer bikonfessionellen Parallelstrukturen entledigen und, ohne die institutionellen Ausformungen des Religiösen geringzuschätzen, als Zeitgeschichte des Christentums eine bekenntnis- und kirchenneutrale Ausrichtung einnehmen wollte.