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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

817–819

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Christophersen, Jörn Roland

Titel/Untertitel:

Krisen, Chancen und Bedrohungen. Studien zur Geschichte der Juden in der Mark Brandenburg während des späteren Mittelalters (13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2021. XVI, 870 S. m. 27 Abb. u. 6 Tab. = Forschungen zur Geschichte der Juden. Abtl. A: Abhandlungen, 32. Geb. EUR 148,00. ISBN 9783447117104.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Die von dem Trierer Historiker Alfred Haverkamp betreute geschichtswissenschaftliche Dissertation von Jörn Roland Christophersen ist ein Markstein der Forschung zum mittelalterlichen Judentum in Deutschland. Zum einen werden hier erstmals umfassend die Quellen zur jüdischen Geschichte in der mittelalterlichen Mark Brandenburg aufgearbeitet; zum anderen wird deren Präsentation mit der reichen Forschung zu anderen Ländern, Regionen und Städten verzahnt, was der Darstellung eine bemerkenswerte Tiefe und Weite verleiht. Das Material hat sich der Vf. im Zuge der Recherchen für die Datenbank Medieval Ashkenas erarbeitet. Für den von ihm betrachteten Zeitraum von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jh.s hat er das Quellenmaterial durch Archiv- und Bibliotheksrecherchen vervielfacht. In vorbildlicher Weise werden die bekannten und neu gefundenen Quellen kritisch gesichtet und vorsichtig miteinander verknüpft. Ein zusammenhängendes und farbiges Bild des märkischen Judentums im späten Mittelalter entsteht dabei nicht; vielmehr ist sich der Vf. immer bewusst, dass die Quellen nur punktuelle Einblicke gewähren.

Was diese Einblicke angeht, präsentiert das Buch viel Neues und Bemerkenswertes. Grundlegend sind die Ausführungen zur Siedlungsgeschichte (Teil C: 125–445). Im 13. und 14. Jh. kamen Juden in einige größere märkische Städte und bauten Gemeinden auf. Sie wurden dabei von den territorialen und den lokalen Obrigkeiten unterstützt, die sich um den Landesausbau und die Entwicklung der Städte bemühten. Jüdische Siedlung gab es in der altmärkischen Hauptstadt Stendal, den mittelmärkischen Zentren Spandau und Berlin-Cölln, der Handelsstadt Frankfurt (Oder), den neumärkischen Zentren Arnswalde und Königsberg und kleineren Städten wie Strausberg. Mitte des 14. Jh.s wurde auch das märkische Judentum von Verfolgung und Pogromen getroffen, konnte sich aber halten. Während des 15. Jh.s schwand die Bedeutung der jüdischen Gemeinden allmählich, bis die Juden dann 1510 vertrieben wurden. Die Erforschung der Siedlungsgeschichte zeigt nicht nur die Verbindungen des märkischen Judentums in den Westen, Süden und Osten des Reichs und weist auf manche Eigenart des märkischen Judentums hin, sondern sie erschließt auch neue Quellen zur Geschichte der Juden jenseits der Mark. Es zeigt sich, dass die Mark Brandenburg zwar kein wichtiges Siedlungsgebiet für Juden war und das mittelalterliche märkische Judentum in seiner kurzen Geschichte keine größere Bedeutung gewann, dass der erst spät einsetzende Landesausbau und der allmähliche Aufstieg des Territoriums aber auch Möglichkeiten boten, die sich die dort siedelnden Juden zunutze machten.

Innerhalb dieses siedlungsgeschichtlichen Rahmens werden drei Aspekte jüdischer Existenz näher untersucht. Grundlegend für das jüdische Leben waren die rechtlichen Rahmenbedingungen, weshalb zuerst die unterschiedlichen Rechtsquellen behandelt werden (Teil D: 446–485). Dabei wird auch ein Seitenblick auf die christliche Judenfeindschaft geworfen (481–485, Beispiele aus dem 14. und 16. Jh.: 219–281.357–379). Vergleichsweise reichhaltig sind die Quellen zu den Wirtschaftsaktivitäten der Juden, vor allem in Handel und Handwerk (Teil E: 486–572). Besonderes Interesse findet die Betätigung von Juden im Fleischerhandwerk; das Finanzwesen scheint für die märkischen Juden dagegen nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Ein dritter Überlieferungskomplex betrifft das Verhältnis der Juden zu den lokalen und territorialen Obrigkeiten (Teil F: 573–703). Hier geht es etwa darum, dass die märkischen Juden wegen ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Städtewesens vielerorts wie Bürger behandelt werden konnten. Was die Gliederung des Buchs angeht, hätten die Teile D bis F in einem Teil mit drei Unterteilen zusammengefasst werden können, sind sie doch thematisch miteinander verflochten und bilden sie doch gemeinsam das Gegenstück zu dem sehr ausführlichen Teil C.

Die Teile C bis F kommen immer wieder auf weitere Aspekte jüdischen Lebens, etwa die Themen Frömmigkeit und Kultus oder Bildung und Gelehrsamkeit, zu sprechen, für die die Quellenlage zurzeit allerdings so dürftig ist, dass sie nicht ausführlicher behandelt werden. Der Fokus auf die Siedlungsgeschichte sowie auf die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Aspekte jüdischen Lebens ist der Überlieferungslage geschuldet. Klar ist jedoch, dass es im märkischen Judentum ein reges religiöses Leben gab und dass es in das intellektuelle Netzwerk des europäischen Judentums eingebunden war, ja sogar »Zentren der Gelehrsamkeit« (716) aufwies. Um die religiöse und die kulturelle Dimension des jüdischen Lebens in der Mark Brandenburg zu konturieren, sind neue Quellen zu erschließen, vor allem solche jüdischer Provenienz, wozu der Vf. den Weg bahnt.

Den vier Teilen, die die Forschungen des Vf.s präsentieren, vorangestellt sind eine ausführliche Einleitung zu Thema, Quellen und Forschung (Teil A: 3–72), und einen Überblick zur brandenburgischen Landesgeschichte im späten Mittelalter (Teil B: 73–124). Am Schluss stehen eine deutsch- und eine englischsprachige Zusammenfassung (704–718.719–727), ein Personenregister und ein Tafelteil. Angesichts der Fülle des verarbeiteten Materials und der Erwähnung zahlreicher Städte und Siedlungen wären ein Sach- und ein Ortsverzeichnis nötig gewesen.

Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Judentums im mittelalterlichen Deutschland und zur brandenburgischen Landesgeschichte. Es macht Werner Heises Monographie (Die Juden in der Mark Brandenburg bis zum Jahre 1571, Berlin 1932) und die der Mark Brandenburg geltenden Artikel in der Germania Judaica nicht einfach überflüssig, es ist aber vorrangig zu konsultieren. Und zwar nicht nur, weil es zahlreiche Korrekturen, Ergänzungen und Vertiefungen gegenüber der älteren Forschung bietet, sondern auch, weil es deutlich macht, dass wir über das märkische Judentum immer noch zu wenig wissen. Dass der Vf. kein Landeshistoriker ist, sondern sich von der Forschung zur jüdischen Geschichte herkommend in die Landesgeschichte eingearbeitet hat, ist übrigens eine große Stärke des Buchs. Dass man über manche Aussagen und Einschätzungen des Vf.s zur brandenburgischen Landes- und insbesondere Kirchengeschichte diskutieren kann, fällt nicht ins Gewicht. Vielmehr gilt, dass die brandenburgische Landeshistoriographie derzeit solch gründliche Forschung nicht zu leisten vermag und dringend auf Impulse von außen angewiesen ist.

Es bleibt die Frage, ob das Buch auch für die theologische Forschung von Bedeutung ist. Wer an der Geschichte des Verhältnisses von Christentum und Judentum interessiert ist, wird hier einiges Material finden. Der Vf. weist darauf hin, dass es neben dem schiedlich-friedlichen Nebeneinander immer eine latente Judenfeindschaft gab, die Konflikte beförderte und sich in Verfolgungen entlud. Aber wie genau Juden und Christen miteinander lebten, lässt sich aus den Quellen nicht ablesen. Zu Recht verzichtet der Vf. darauf, die bekannten Episoden (wie den Hostienfrevelprozess 1510) und Zeugnisse (wie die Judensau im Brandenburger Dom) noch einmal ausführlich vorzustellen; wichtiger ist ihm, diese und andere Hinweise in ein größeres Bild einzuzeichnen. Dieses größere Bild ist es, das für die theologische Forschung von Bedeutung ist. Auch wenn sie vorrangig an der religiösen und kulturellen Dimension des mittelalterlichen Judentums interessiert ist und diese ins Verhältnis zum Christentum setzt, bedarf das doch der sorgfältigen Einbettung in die Siedlungsgeschichte und die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen.

Obwohl das Buch lang und inhaltsreich ist, so vermisst der Rezensent doch etwas: den Ausblick auf das 16. Jh. Der Vf. macht es sich zu einfach, die Geschichte des mittelalterlichen Judentums in der Mark mit der Vertreibung von 1510 enden zu lassen und die Wiederzulassung der Juden für einige Jahrzehnte Ende der 1530er Jahre zu einem unwesentlichen Intermezzo zu erklären (717). Denn der zunehmend restriktivere Umgang mit den Juden, wie ihn die Hohenzollernherrscher des 15. Jh.s entwickelten, setzt sich in der Regierungszeit von Kurfürst Joachim II. (1535–1571) fort, nun aber mit der umgekehrten Folge, dass für mehrere Jahrzehnte Juden wieder in der Mark siedelten und sogar Gemeinden aufbauten. Vor allem für die Handelsstadt Frankfurt (Oder) ist die jüdische Präsenz breit belegt. Was über das märkischen Judentums Mitte des 16. Jh.s bekannt ist, erinnert in vielerlei Hinsicht an die mittelalterlichen Verhältnisse und hätte darum – wenigstens kurz – ins Verhältnis zur vorangehenden Zeit gesetzt werden müssen. Dabei wäre dann auch die Frage zu stellen gewesen, weshalb Joachim II. die Juden wieder in seinem Land zulässt. Hier spielen auch Motive der mittelalterlichen Judenschutzpolitik eine Rolle, vor allem die fiskalische Ausnutzung der Juden, aber diese Motive dürften doch kaum hinreichen, um die Wende des Kurfürsten zu erklären. Dasselbe gilt für die dem Kurfürsten von Josel von Rosheim und Philipp Melanchthon beim Frankfurter Fürstentag 1539 übermittelten Informationen über den Prozess von 1510. Es stellt sich die Frage, ob die Wiederzulassung der Juden, die ganz gegen den Trend der Zeit erfolgte und von Ständen und Geistlichkeit scharf kritisiert wurde, nicht auch mit dem evangelischen Glauben des Kurfürsten zu tun hat und ob nicht die Reformation neue Möglichkeiten im Verhältnis der Christen zu den Juden eröffnete.