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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

787–789

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

König, Julia

Titel/Untertitel:

Die Körper-Geist-Beziehung im Vajrayana-Buddhismus.

Verlag:

Baden-Baden: Tectum Verlag (Nomos) 2021. XVII, 372 S. = Religionen aktuell, 31. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783828846586.

Rezensent:

Tobias Schuckert

Das Wechselspiel des Erlebens von Körper und Geist wird in unterschiedlichen Religionen und Kulturen verschiedenartig interpretiert. Das neuzeitliche, europäisch-westliche Verständnis von Gesundheit, das weitestgehend materialistisch geprägt ist, ist nicht das einzige. In der vorliegenden Studie, einer Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Fach Religionswissenschaften unter Betreuung von Bertram Schmitz, beschäftigt sich die Leipziger Yoga-Lehrerin Julia König mit der Frage: »Wie wird die Körper-Geist-Beziehung von Praktizierenden des Vajrayana Buddhismus verstanden?« (2). Dabei sucht die Vfn. nicht eine Antwort auf alle Fragen hinsichtlich von Funktionen des menschlichen Körpers, Bertram Schmitz schreibt in seinem Vorwort: »Vielmehr wird eine an den Buddhismus gebundene Sicht vorgestellt, die Aspekte der Körper-Geist-Beziehung aufzeigt, die in den sogenannten westlichen Traditionen in dieser Weise nicht artikuliert werden.« (XI)

Nach einer Einleitung (Kapitel 1) und einer allgemeinen Hinführung zur Methodik des Buches (Kapitel 2) folgt in einem dritten Kapitel eine Übersicht über »Die Körper-Geist-Beziehungen in den indischen Religionen«. Das besondere Interesse der Vfn. gilt jedoch dem in Tibet entstandenen Vajrayana-Buddhismus, einer Sonderform, in der aus Indien stammende Einflüsse des Tantrismus mit dem Mahayana-Buddhismus und animistisch-schamanistischen Elementen zusammenflossen (109). Die Vfn. berichtet, wie sie aufgrund der Auseinandersetzung mit dieser Form des Buddhismus eine persönliche Veränderung und eine neue Wahrnehmung ihrer äußeren und inneren Welt erfuhr, was die Motivation einer tieferen Auseinandersetzung ist (XV). Der Vajrayana Buddhismus wurde um 777 von Indien nach Tibet eingeführt (vgl. 109) und ist auch unter der Bezeichnung »Lamaismus« bekannt, was auf die besondere Stellung des Lamas hinweist. Die Studie konzentriert sich vor allem auf das Wechselspiel von Körper und Geist.

Zentral für die Anthropologie des Vajrayana Buddhismus nach der Beschreibung der Vfn. ist die Unterscheidung zwischen dem feinstofflichen und grobstofflichen Körper (z. B. 120). Während mit dem grobstofflichen der empirisch messbare Körper angesprochen ist, wird mit dem feinstofflichen Körper ein »Energiesystem innerhalb des grobstofflichen Körpers« beschrieben, »einem energetischen Netzwerk, welches mit empirischen Meßverfahren (sic) nicht vollständig erfassbar sei« (151). Letzterer, so die durchgängige Aussage des Buches, hat Auswirkungen auf den ersten. Die Vfn. beschreibt, wie der feinstoffliche Körper aus Energiekanälen (pani), -rädern (chakra), -winden (rlung) und -tropfen (bindu) besteht (156). Diese Phänomene können nicht durch westliche wissenschaftliche Methoden empirisch nachgewiesen werden, sondern »nur nach langer meditativer Schulung wahrgenommen werden« (156). Durch Yoga und bestimmte Meditationstechniken werde ein harmonisches Zusammenspiel hergestellt, mit dem Praktizierende dahingehen, dass sie willentlich ihre Körperfunktionen steuern können. Dies, so die Vfn., ermögliche Meistern der Meditation, sich den eigenen Todeszeitpunkt bewusst zu machen (144). Diese wie auch andere Aussagen dieses Kapitels gründet sie auf ihre Quellenrecherche sowie ausführliche Interviews mit Meditations- meistern. Letztere sind in Form von Zusammenfassungen im sechsten Kapitel des Buches zu finden.

Im folgenden fünften Kapitel setzt sich die Vfn. mit einem möglichen Dialog zwischen der vom Vajrayana-Buddhismus be- einflussten tibetischen Medizin und der auf empirische Wissenschaft gegründeten westlichen Medizin auseinander. Ihr ist beizupflichten, dass auch die in Europa und Nordamerika vorherrschende Biomedizin nicht frei von weltanschaulichen Vorurteilen ist. Als Beispiel nennt sie Aussagen Alejandro Chaouls, der die Ursache der Dichotomie zwischen Körper und Geist im Cartesianischen Dualismus sieht (vgl. 223). Hier schlägt die Vfn. einen Zusammenschluss von westlicher Medizin, die aus der Perspektive der dritten Person messbare Ergebnisse liefert, mit der tibetischen Medizin vor, die den Schwerpunkt auf die Perspektive aus der ersten Person von Yogis und Meditierenden legt (243). Das Kapitel beschäftigt sich intensiv mit einem möglichen Dialog und diskutiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem tibetischen und westlichen Ansatz.

Dabei regt die Vfn. an, die feinstofflichen Körper mit dem autonomen Nervensystem zusammenzubringen. Sie verweist auf den walisischen Religionswissenschaftler Geoffrey Samuel, der Praktiken, die mit den »Chakren, Nadis, Winden, und dem Bindu innerhalb des feinstofflichen Körpers arbeiten, als eine Art Training des autonomen Nervensystems« (269) versteht.

Wurden die Aussagen der Kapitel 1 bis 5 wesentlich auf die literarischen Quellen aufgebaut, so bringt das sechste Kapitel als weitere Datenbasis die Aussagen von sechs Interviewpartnern und -partnerinnen, die aufgrund ihrer religiösen Praxis auf die Forschungsfrage (vgl. 2) hin befragt wurden. Verwertet sind in diesem Kapitel Daten aus 25 Stunden Audiomaterial, das durch Interviews in Deutschland, Österreich und online entstanden ist. Die Interviews sind auf Deutsch, Englisch und Tibetisch mit deutschem Übersetzer geführt worden (283). Die Interviewpartner sind allesamt Experten für Meditation und Yoga und decken dabei eine Bandbreite an Expertise ab. Es sind Lehrerinnen und Meister, die regelmäßig Lehrveranstaltungen halten. Die Vfn. hat darum neben den Interviews auch Daten einer teilnehmenden Beobachtung eines Wochenend-Retreats, das von einem der Interviewpartner veranstaltet wurde, einfließen lassen. Es stellt sich die Frage, warum die Ergebnisse der Interviews nicht in den Text zuvor eingearbeitet wurden. Ein Satz wie »Er ist ein unglaublich fähiger, weiser und mitfühlender Lehrer« (286) verweist zwar auf die Bewunderung der Vfn. für den Befragten, aber das sind subjektive Wertschätzungen, die kritisch-reflexiv durchbrochen werden müssen. Es ist eine Grundregel qualitativer Forschung, die eigenen positiven wie negativen Vorbehalte offenzulegen und damit zu größtmöglicher Objektivität beizutragen. Die Vfn. selbst ist praktizierende Buddhistin. Darum stellt die Studie eine emische Betrachtungsweise auf den erforschten Gegenstand dar.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Buch ein interessanter Beitrag zu einem Religionsverständnis ist, das eine starke körperliche Dimension hat und darum als ein ganzheitliches Phänomen zu verstehen ist. Die Beschäftigung mit dem Thema gewährt Lesern und Leserinnen mit einem jüdisch-christlichen Hintergrund Einblicke in ein Körperverständnis, das schon aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten in der Regel verborgen bleibt, auch wenn die Vorstellung von Energiezentren in Form von Rädern (chakra) und Winden (rlung) durch Medien und verschiedene Accessoires wie Armbänder und Brettspiele, längst Einzug in die deutsche Lebenswirklichkeit gehalten hat. Dieses Buch bietet neben dem allgemeinen Überblick über die unterschiedlichen Körper-Seele-Konzepte auf dem indischen Subkontinent auch eine sehr wertschätzende und wohlwollende Innenperspektive, die es erlaubt nachzuvollziehen, was Praktizierende des Vajrayana-Buddhismus unter den Begriffen chakra, rlung, fein- und grobstofflicher Körper verstehen. Es setzt ein Mindestmaß an Kenntnis buddhistischer Fachbegriffe voraus und ist auch sonst eine anspruchsvolle Lektüre. Phänomene wie die des 1852 in Russland geborenen buddhistischen Mönchs Daschi-Dorscho Itigelow, der 1927 verstorben war und dessen Leichnam bei seiner Exhumierung praktisch keine Verwesungserscheinungen aufwies (3–4), können mit dieser Studie nicht erklärt werden. Es wird hingegen deutlich, dass die westliche materialistische Weltsicht nicht die einzige ist. Damit ist dieses Buch ein Beitrag zu einem interreligiösen Verständnis zwischen Ost und West.