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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

785–787

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eckholt, Margit, El Mallouki, Habib, u. Gregor Etzelmüller [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Differenzen gestalten. Hermeneutische Grundlagen des christlich-muslimischen Gesprächs.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 384 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 9783451386961.

Rezensent:

Tobias Specker

Ist die Darstellung von Gemeinsamkeiten per se ein Beitrag zum friedvollen Miteinander der Religionen, während die Betonung der Unterschiede genau dieses gefährdet? Die Autoren und Autor-innen des vorliegenden Sammelbandes, der auf eine Ringvorlesung des Osnabrücker theologischen Graduiertenkollegs zurückgeht und von dem guten Miteinander der Institute für evangelische, islamische und katholische Theologie zeugt, verneinen diese Frage, wie bereits der Titel anschaulich zeigt: »Religiöse Differenzen gestalten«. Die knappe Formulierung verdichtet die Leitperspektiven, die den 21 sehr unterschiedlichen Beiträgen zugrundeliegen: Das Signum der Moderne ist nicht die Säkularität, sondern die Pluralität (s. z. B. 270). Die Pluralität an sich garantiert jedoch weder ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander noch einen vertieften theologischen Erkenntnisgewinn. Beides ergibt sich erst dadurch, dass die Differenzen nicht statisch und separierend, sondern dynamisch und relational verstanden werden. Dabei trägt der vertraute Umgang mit intrareligiösen Differenzen auch zu einem konstruktiven Umgang mit interreligiösen Differenzen bei (und umgekehrt, vgl. 10.60.338). Nicht die bloße Anerkennung der Pluralität als solche ist somit das Ziel interreligiöser Reflexion, sondern das hermeneutische Suchfeld eines »Zwischen« (vgl. 46–49).

Eine vertiefte Lektüre der vielfältigen Beiträge kann vier Gruppen von Artikeln unterscheiden: Eine erste Gruppe von Artikeln bietet eine explizite (Meta)Reflexion der titelgebenden Differenzsensibilität. Explizit formuliert Joshua Ralston, u. a. in Auseinandersetzung mit dem andalusischen Gelehrten Ibn Ḥazm, seine Kritik an der Annahme, dass die Betonung von Differenz dialoghinderlich und die Herausstellung von Gemeinsamkeit konfliktlösend sei. Auch die Auseinandersetzung mit dem religionstheologischen Pluralismus, die in einer ganzen Reihe von Artikeln (Griggs, Shehata, Rüdel, Pecina) – immer noch, ist man versucht zu sagen – geführt wird, geschieht unter dem Vorzeichen der mangelnden Differenzwahrnehmung. Denn der religionstheologischen Verhältnisbestimmung wird die hermeneutisch angelegte Aufgabe gegenübergestellt, den anderen als Anderen zu verstehen, eine Aufgabe, die Felix Körner in das Ternar Identitätspflicht, Alteritätsarmut, Authentizitätsweg bringt. Die leitende Perspektive zielt damit weniger auf die Versöhnung von Wahrheitsansprüchen als auf die Frage nach der Möglichkeit bereichernder und fruchtbarer Konvivenz (vgl. 11). Diese Konvivenz ist jedoch nicht im Sinne einer Funktionalisierung für gesellschaftspolitische Anliegen verstanden, sondern vielmehr als der Ort, an dem sich religiöse Praktiken (neu) formieren, die als theologische Erkenntnis-orte ernstgenommen werden müssen (Eckholt, Parzinger).

Eine zweite Gruppe von Artikeln lotet Möglichkeiten aus, dem religiös Anderen einen Ort in der eigenen Theologie zu geben. Aus islamischer Perspektive entwickelt Güneş Grundzüge einer inklusiven Anthropologie: Seine nicht gänzlich von Apologetik freien Überlegungen formulieren das ādamiyya-Prinzip, in dem er die Geschwisterlichkeit aller Menschen und deswegen die »islamische Grundlage der Menschenwürde« (158) begründet sieht. Die christlichen Überlegungen von Siebenrock, Etzelmüller und Middelbeck-Varwick setzen weniger anthropologisch als heilsgeschichtlich an und betonen einmütig die Notwendigkeit, die christliche Deutung des Islam aus der christlich-jüdischen Verhältnisbe-stimmung heraus zu entwickeln. Unterschiedliche Akzente setzen die Artikel in Bezug auf den konkreten systematischen Zusammenhang, in dem die dialogische Begegnung mit dem Islam zu verorten ist: So sieht Siebenrock die »systematisch-theologische Grundlage dieses Dialogs als eine pneumatologisch-christologisch strukturierte Schöpfungstheologie« (213). Middelbeck-Varwick stellt theozentrisch die Selbigkeit Gottes in den Mittelpunkt und arbeitet die praktischen und theologischen Konsequenzen aus. Etzelmüller schließlich fundiert den Dialog christologisch und möchte in einer Relecture Karl Barths zeigen, inwiefern »christologische Konzentration und interreligiöser Dialog einander nicht ausschließen« (285).

Eine dritte Gruppe bilden jene Artikel, die ausdrücklich die Vor- und Rahmenbedingungen für eine theologisch fruchtbare Begegnung mit dem religiös Anderen thematisieren. Aus islamischer Perspektive legt Takım, ganz auf der Linie gegenwärtiger Koranhermeneutik, einen kommunikationstheoretischen Offenbarungsbegriff vor. El-Mallouki möchte in einer präzise angelegten Studie zum islamischen Recht zeigen, dass »die menschliche Vernunft bei den Erkenntnisprozessen der islamischen Normen und Bestimmungen eine Rolle spielt« (185). In christlicher Perspektive skizziert Weisse allgemeine Grundlinien einer dialogischen Theologie, die er eingängig in einem methodischen Vierschritt operationalisiert (vgl. 280). Irmtraud Fischer bringt entschieden in den Blick, dass die interreligiöse Verständigung in einen kritischen und dynamischen Traditionsbegriff eingebettet werden muss, von dem aus die Inkulturation in eine heutige Geschlechterdemokratie zu erfolgen hat. Bernhardt schließlich problematisiert ausführlich die undifferenzierte Anwendung des Religionsbegriffs, insbesondere, wenn im Konzept der Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus »wie Säulen als verschiedene Arten der gleichen Gattung auf einer Ebene« (238) behandelt werden. Zugleich plädiert er für einen reflektierten Gebrauch des Religionsbegriffs als »heuristische[n] und regulative[n] Begriff«, der »auf ein Feld mit offenen Rändern« verweist (245).

Konkrete Studien zu interreligiösen Verflechtungen stellen eine vierte Gruppe von Artikeln dar. So deutet Griggs den geistlichen Weg von Bar Hebraeus in enger Analogie zu al-Ġazālīs Weg von der scholastischen Theologie zum Sufismus aus. Hagedorn verfolgt die These, »dass der Qurʾān sich exegetisch dem Genre der ›rewritten Bible‹-Texte zuordnen lässt und dies auch ganz bewusst sein will« (101), und zeigt diese Fortschreibung am Beispiel Salomos auf. Hakkı Arslans sehr lesenswerter Artikel untersucht Gerichtsprotokolle osmanischer Schariagerichte aus dem 17. und 18. Jh., in denen die Prozessparteien unterschiedlichen Religionen angehörten. Er weist zum einen nach, dass die konkrete Rechtspraxis den Anliegen und Bedürfnissen nichtmuslimischer Minderheiten weitaus eher entgegenkommt, als es die rechtstheoretischen Grundsätze des islamischen Minderheitenrechtes annehmen lassen. Zum anderen zeigt er Verflechtungen im Grundbesitz, im Verkauf und in der Arbeitsteilung sowie eine wechselseitige Unterstützung in gerichtlichen Situationen auf, so dass er von »Kadigerichten als interreligiöse[n] Kontaktzonen« (316) sprechen kann.

Schaut man abschließend auf den gesamten Band zurück, so fällt zunächst auf, mit welcher Selbstverständlichkeit sich christliche und islamische Theologen in einem gemeinsamen Methodenhorizont universitär verankerter Theologie bewegen. Inhaltlich wiederholt der Band mitunter bekannte Einsichten, doch manches gewinnt durch die Konstellation im christlich-islamischen Kontext noch einmal neue Aspekte, so z. B. die Kritik der pluralistischen Religionstheologie im Vergleich zum »nicht-reduktiven Pluralismus« Muhammad Legenhausens. Die anregendsten Einsichten bieten m. E. die Studien, die Eckholts hermeneutische Konzeption des »Zwischen« in konkrete Analysen interreligiöser Verflechtungen übertragen. In ihnen wird die zentrale Erkenntnis greifbar: Entscheidend ist nicht die Suche nach Gemeinsamkeiten, sondern die Frage, wie Differenzen so in das religiöse Selbstverständnis und das gesellschaftliche Umfeld eingebracht werden, dass sie nicht isolierend und separierend wirken, sondern verbindend.