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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

760–762

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kardinal Koch, Kurt

Titel/Untertitel:

Wohin geht die Ökumene? Rückblicke – Einblicke – Ausblicke.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2021. 304 S. Kart. EUR 29,95. ISBN 9783791732442.

Rezensent:

Uwe Swarat

Der Titel dieses Buches entspricht nicht seinem Inhalt. Zum Glück! Denn eine Antwort auf die Titelfrage könnte wohl nur ein Prophet oder ein Geschichtsdeterminist wagen, und beides ist der Autor nicht. Kurt Kardinal Koch ist vielmehr Bischof und Theologe und seit 2010 Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Als »Ökumeneminister« des Papstes legt er hier eine an Themen orientierte Bestandsaufnahme der ökumenischen Be­ziehungen der römisch-katholischen Kirche vor – geschrieben in dem Bewusstsein, dass die christliche Ökumene noch nicht am Ziel ist, sondern auf dem Weg. Wohin dieser Weg schließlich führt – das wird man wohl auch dann nicht sicher vorhersagen können, wenn man sich Ziele setzt.
Das Buch eines Kurienkardinals muss man vielleicht auch kirchenpolitisch lesen. Da der Rezensent als evangelischer Freikirchlicher aber nicht ausreichend Einblick in innerkatholische Verhältnisse hat, beschränkt er sich auf eine theologische Lektüre aus ökumenischem Interesse. Das Buch enthält mehr Themen als in dieser Rezension angesprochen werden können. Deshalb muss der Rezensent eine (letztlich subjektive) Auswahl treffen.
K. thematisiert u. a. die Begegnung der katholischen Kirche mit evangelikalen und pentekostalen Bewegungen. In ihr liege eine besondere Dringlichkeit, da man in der südlichen Hemisphäre eine »Pentekostalisierung des Christentums« wahrnehmen könne (239). Als Katholik müsse man dabei prüfen, welche Phänomenein diesen Bewegungen als neue Grundgestalten des Christlichen angesprochen werden können und welche sektiererischer Art seien. »Sekten« meint K. an ihrem »proselytischen Verhalten« (243) erkennen zu können. Unter Proselytismus versteht er im Sinne der weitverbreiteten Definition, dass Konversionen durch Überredung, Bestechung, Einschüchterung oder Zwang erreicht werden. Der Respekt vor der Religionsfreiheit der Menschen verlange, wie K. mit Recht sagt, ein solches Vorgehen zu verwerfen. Er hätte aber auch sagen müssen, der Respekt vor der Religionsfreiheit verlange es, freiwillige Konversionen zu akzeptieren. Wenn Menschen von unserer Kirche in eine andere wechseln, ist nicht immer nur Verführung im Spiel; es kann auch Ausdruck einer neu gewonnenen Überzeugung sein. Das lässt K. durchaus gelten – allerdings nur, soweit es den Vorwurf von Ostkirchen betrifft, Rom betreibe auf ihren Territorien Proselytismus. Man sollte sich jedoch hüten, die e igenen Missionserfolge als Ausdruck der Religionsfreiheit dar-zustellen, die Erfolge der anderen aber als Proselytismus zu be-werten.
Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung« (GER) von 1999 würdigt K. als ökumenische Errungenschaft und als bleibende Herausforderung. Zu den bleibenden Herausforderungen gehöre eine für Menschen von heute relevante Verkündigung der Rechtfertigungsbotschaft – wobei der Rezensent vor allem unterstreichen möchte, was K. mit den Worten von Joseph Ratzinger sagt, nämlich »dass eine Rechtfertigungslehre, ›in der Sünde und Gericht, Gericht und Gnade, Kreuz Christi und Glaube nicht vorkommen‹, keine Rechtfertigungslehre mehr ist« (197). Unter der Überschrift »Notwendige Klärungen« behandelt Koch einzelne Differenzen, die die GER seiner Meinung nach noch nicht überwunden hat. Dazu zählt er die lutherische Formel »simul iustus et peccator«, über die noch kein wirklich zufriedenstellender Konsens erreicht sei. Diese Be­hauptung muss vor allem deshalb verwundern, weil in der »Ge­meinsamen offiziellen Feststellung« (GOF) des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche vom Mai 1999 aus-geführt wird, dass Lutheraner und Katholiken gemeinsam den Christen als »simul iustus et peccator« verstehen können. Diese Ausführungen ignoriert der Kardinal einfach – wie man überhaupt den Eindruck bekommt, seine Auseinandersetzung mit der GER sei auf dem Stand der kritischen Antwort des Vatikans von Juni 1998 stehengeblieben. Dementsprechend werden auch die theologischen Erklärungen der Weltrats Methodistischer Kirchen und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, mit denen sie ihr Verständnis der Rechtfertigungslehre und ihre Zustimmung zur GER erklärt ha­ben, keiner näheren Behandlung gewürdigt.
Die nach Ansicht des Rezensenten wichtigsten Ausführungen in diesem Buch beziehen sich auf das katholische Verständnis der christlichen Einheit und auf die sich daraus ergebende ökumenische Zielvorstellung. K.s Überlegungen gründen auf der Aussage des II. Vatikanischen Konzils (Dekret über den Ökumenismus »Unitatis redintegratio«, Art. 1.1), dass Jesus Christus »eine einige und einzige« (una atque unica) Kirche gegründet habe, und stellen die Frage, wo diese Kirche anwesend und erfahrbar ist. Bekenntnis und Theologie der evangelischen Kirchen antworten darauf zumeist mit den beiden Kennzeichen der einen wahren Kirche, nämlich der reinen Evange-liumsverkündigung und der stiftungsgemäßen Verwaltung der Sakramente. Die von Christus gegründete eine und einzige Kirche ist demnach in allen Versammlungen von Gläubigen zu finden, in denen Wort und Sakrament von Christus Zeugnis ablegen. Diese Vorstellung erscheint K. jedoch als gänzlich unzureichender »ekklesiologischer Pluralismus« (24.259), wie er auch überzeugt ist, dass den »kirchlichen Gemeinschaften«, die aus der Reformation hervorgegangen sind, »konstitutive Elemente zum vollen Kirchesein fehlen« (31). K. erklärt, »dass die ›einige und einzige‹ Kirche Jesu Christi in der Katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird […] konkret anwesend und antreffbar ist« (28). Die römisch-katholische Kirche, so muss man wohl verstehen, ist die einzige Institution, die Christus als Kirche gegründet hat. Sie (und nur sie!) würde somit Christus, um den alle Christen sich scharen, sichtbar repräsentieren.
Ein solches Ökumenemodell ist freilich recht verschieden vom evangelischen, um es vorsichtig zu sagen. Es ähnelt noch dem früheren Einheitsmodell des Übertritts aller Christen in die römisch-katholische Kirche. Damit wird es den Intentionen des II. Vatikanischen Konzils wohl nicht gerecht. Joseph Ratzinger hat schon 1964 erklärt, an die Stelle der Hoffnung auf Konversionen würde nun »die Idee der Einheit der Kirchen treten, die Kirchen bleiben und doch eine Kirche werden« (Reformatio 1964, 85–108, hier 105). Dieses Zitat findet man bei Koch nicht, obwohl er Ratzinger häufig zitiert. Ratzingers Formulierung von 1964 kommt denn auch dem recht nahe, was K. als ekklesiologischen Pluralis mus verwirft. Hier können evangelische Christen nur um mehr Klarheit bitten.
K. nennt als ökumenisches Ziel die »Wiedergewinnung« bzw. die »Wiederherstellung« der Einheit (24.291 u. ö.). Diese Redeweise ist zwar vom II. Vatikanischen Konzil vorgegeben (»Unitatis redintegratio«), aber dennoch nicht unproblematisch, suggeriert sie doch, dass es irgendwann einmal eine vollständige Einheit aller Christen gegeben habe, die verlorengegangen ist, aber jetzt wieder hergestellt werden könne und müsse (so versteht es K. tatsächlich: 260). Doch selbst wenn man bis in die Urchristenheit zurückgeht, wird man keine vollkommene Einheit als Zustand finden, sondern nur das ständige Bemühen, die in Christus (auch heute noch!) vorhandene Einheit des Geistes als tragenden Grund der Vielfalt und als Überwindung von Spaltung und Irrlehre immer wieder neu zu gewinnen. Darum streben evangelische Christen auch in der Ökumene nicht zurück in einen früheren Zustand der Christenheit, sondern nach einer ständigen Reformation aller Kirchen aus der Kraft und Autorität des apostolischen Evangeliums.