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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

752–754

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Witten, Ulrike

Titel/Untertitel:

Inklusion und Religionspädagogik. Eine wechselseitige Erschließung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 623 S. = Religionspädagogik innovativ, 38. Z. Zt. als eBook (PDF). EUR 67,99. ISBN 9783170396517.

Rezensent:

Wolfhard Schweiker

Diese profunde praktisch-theologische Habilitationsschrift befasst sich mit der wechselseitigen Erschließung von Inklusion und Religionspädagogik. Das Werk wendet sich ganz einem Theorem zu, das inzwischen ohne Frage zu den religionspädagogischen Grundbegriffen gehört (18). Die Autorin Ulrike Witten geht den beiden Grundfragen nach: Was »bringt« die Religionspädagogik der Inklusionstheorie und was »bringt« die Inklusionstheorie der Religionspädagogik (499)? Indem sie die Religionspädagogik inklusionstheoretisch und die Inklusionstheorie religionspädagogisch reflektiert, arbeitet sie die unausgeschöpften Potentiale für die Theoriebildung beider Wissenschaftsfelder systematisch heraus.
Dem Ziel der wechselseitigen Erschließung von Inklusion und Religionspädagogik nähert sich die Vfn. in drei Schritten, die zu­gleich den Aufbau der Arbeit widerspiegeln (19): Teil I versucht, das hochkomplexe, dynamische und unabgeschlossene Inklusionstheorem in einer historisch-genetischen Herangehensweise multiperspektivisch zu erfassen. Angesichts der Popularisierung und problematischen Verunklarung des Begriffs nähert sich die Vfn. der Vielstimmigkeit von Inklusion in vier Perspektiven: der inklusionspädagogischen Leitperspektive sowie der sozialwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und menschenrechtlichen Perspektive. Neu bei dieser religionspädagogischen Rezeption der Inklusionstheorie ist, dass bei diesen Perspektiven auch jeweils der Standort der Vfn. und der Sitz im Leben (31) durchgängig einbezogen werden, um theoretische Prämissen besser einordnen zu können. Ferner verweist die eigens ausgewiesene kulturwissenschaftliche Perspektive (89–122) auf Aspekte, die religionspädagogisch noch kaum rezipiert sind (z. B. Othering, Abjekt-Theorie, Adultismus, Ableismus, Differentsetzung oder die Denkfigur der Ähnlichkeit). Darüber hinaus regt die Vfn. an, zukünftig auch philosophische und postkoloniale Zu­gänge einzubeziehen, ohne dass einzelne Perspektiven ein starkes Übergewicht erhalten. Vielmehr sollte die Summe der Perspektiven den Inklusionsdiskurs prägen (132) und als eine Art Netz fungieren, das sich unter derselben Zielsetzung gegenseitig ausbalanciert und stabilisiert (138). Dies schließt ein, dass das offene und dynamische Theorem der Inklusion auch unterschiedliche Paradoxien und Spannungsfelder ausweist und reflektiert (139–206).
Teil II stellt in fünfzehn Interpretamenten dar, wie die Religionspädagogik Inklusion versteht, kritisch würdigt und die darin enthaltenen Potentiale für beide Domänen aufzeigt. Für die Be­stimmung der Interpretamente greift die Vfn. auf das kulturwissenschaftliche Verständnis von Inklusion als »reisende Theorie« (Edward Said) bzw. als travelling concept zurück (213). Dabei geht sie, monodisziplinär verengend, davon aus, dass die Reiserouten der Inklusion ihren Ursprung von der (Sonder-)Pädagogik aus nahmen (214) und auf diese Weise u. a. auch die Religionspädagogik als Gastgeberin erreichten (214), wobei sie die Reisetätigkeiten zwischen beiden Disziplinen konvergenztheoretisch unterlegt (220). Im Bewusstsein, dass Inklusion auch schon von Beginn an in verschiedenen theologischen Disziplinen Gastfreundschaft erfuhr, grenzt die Vfn. die Rekonstruktion der Reiserouten auf die Religionspädagogik bzw. Reflexionen zur religiösen Bildung ein. Der Untersuchungszeitraum 2005–2020 ihrer umfassenden Literaturrecherche weist mit jährlich über 30 Publikationen einen quantitativen Höhepunkt im Jahr 2014 auf und pendelte sich bis 2020 auf dem hohen Niveau von 20 Veröffentlichungen ein (226). Die ermitt elten Reisewege der Auseinandersetzung gliedern sich in vier Etappen: (1.) Zögerliche Annäherung 2005–2010, (2.) Stetig wachsende Auseinandersetzung 2011–2013, (3.) Konsolidierung einer inklusiven Perspektive sowie Konturierung verschiedener Ansätze (2014–2016) und (4.) Inklusion als selbstverständliche religionspädagogische Grundfrage (seit 2017). Den Kern der Arbeit bildet die qualitative Analyse der Aneignungsformen von Inklusion, die in fünfzehn (in ihrer Genese nicht nachvollziehbaren) Interpretamenten mit höchst interessanten Resultaten mündet (251–496), die hier nur eklektisch angedeutet werden. Das dritte Interpretament »Inklusion als theologisch begründungsbedürftig« stehe in der Ge­fahr, das Menschenrecht auf Inklusion, das keine stärkere Be­gründung mehr brauche, zu entwerten und die defizitäre Perspektive einzuzeichnen, so als ob Inklusion für bestimmte Personen erst noch begründet werden müsse (274). Ob eine theologische Begründ ung etwas in die Inklusionstheorie einzuspielen vermöge, sei auch vor dem Hintergrund der Schuldgeschichte von Kirche und Theologie zu hinterfragen. Trotz der Ambivalenz dieses Interpretaments seien die Potentiale noch unausgeschöpft. Bei theologischen Begründungen seien unterschiedliche Aspekte sensibel zu berücksichtigen, u. a. die Grundsatzfrage, inwiefern es biblischen Texten exegetisch und hermeneutisch entspreche, wenn sie zur Begründung eines modernen Paradigmas herangezogen werden (278). Auch das siebte Interpretament »Inklusion […] als bleibende kritische Anfrage zur Gestaltung der Kommunikation des Evangeliums« weise darauf hin, Inklusion nicht nur oberflächlich wahrzunehmen, sondern die Binnen- und Außenperspektive zu unterscheiden und sich mit aufgesetzter »Inklusionsbrille« auf die Inklusionstheorien einzulassen sowie die Disability Studies in den theologischen Disziplinen zu stärken (337). Schließlich rege das dreizehnte Interpretament mit Rekurs auf den machtkritischen Diskurs dazu an, die »Inklusionssensible Religionspädagogik als beschämungsfreie, do­minanzkritische Religionspädagogik« zu entwickeln (440) sowie Inklusion in einem weiten intersektionalen Verständnis als eine inklusive Religionspädagogik der Vielfalt zu profilieren, ohne dabei dem Missverständnis zu unterliegen, jede Heterogenität würde nun positiv als Vielfalt verstanden (462).
Der abschließende Teil III stellt in fünf Reflexionsdimensionen (historisch, vergleichend, empirisch, systematisch, handlungsorientiert) im Blick auf die gesamte Religionspädagogik heraus, was in der Religionspädagogik durch die Auseinandersetzung mit Inklusion neu gedacht oder gesehen werden kann (501). In historischer Perspektive drängt sich u. a. die Frage auf, warum die integrative Religionspädagogik es nicht bis in den »Kern« der Religionspädagogik geschafft hatte, sondern mehr oder weniger ein Sonderdiskurs in abgeschlossenen Forschungsräumen blieb (503). In empirischer Hinsicht legen sich ein Perspektivenwechsel von den Beforschten zu den Mitforschenden (512) sowie zahlreiche Forschungsdesiderate (514) nahe. Auch aus systematischer und handlungsorientierter Perspektive ergeben sich weiterführende Impulse für eine religionspädagogisch reflektierte vielstimmige Inklusionstheorie (547), die zu­künftig auch die Konvergenztheorie und das travelling concept als wissenschaftstheoretische Grundlage einbeziehen könnte.
Dieses höchst aufschlussreiche Werk ist nicht nur ein historisch-genetisches Kompendium zur »Reisetätigkeit« des Inklusionstheorems zwischen Religionspädagogik und Erziehungs- bzw. Sozialwissenschaften (2005–2020), sondern auch eine unverzichtbar reichhaltige Quelle an Impulsen und Differenzierungen zur Weiterentwicklung einer inklusionsorientierten, diversitätssensiblen Religionspädagogik.