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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

739–741

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schubert, Hartwig von

Titel/Untertitel:

Nieder mit dem Krieg. Eine Ethik politischer Gewalt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 576 S. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783374070459.

Rezensent:

Michael Haspel

In der Regel steht die Erarbeitung einer Habilitationsschrift am Anfang einer universitären Laufbahn. Bei Hartwig von Schubert ist es die Summa eines akademischen Lebens, das mit der Bioethik begann und sich in den letzten Jahren der Friedensethik widmete. Als Militärseelsorger mit Einsatzerfahrung in Afghanistan kann der Vf. in diesem Feld akademische Reflexion mit Einsichten in die Praxis verknüpfen.
Unter dem leicht irreführenden Titel »Nieder mit dem Krieg« wird »Eine Ethik politischer Gewalt« angekündigt. Der Haupttitel ist ein Zitat Karl Liebknechts von 1916 und erschließt sich nicht so recht, da es das Hauptanliegen der Schrift ist, an das Recht gebundene Gewalt als notwendig und legitim zu rehabilitieren. Denn, so der Vf.: »Freiheit ist […] ohne den Kampf gegen den Despotismus nicht zu haben« (15).
Nach der Einleitung (1.) folgen vier Kapitel. Als »Herausforderungen politischer Ethik« (2.) werden die »Modernität«, die »Universität« und die »Globalität« identifiziert. Das 2. Kapitel mündet darin, das »liberale Versprechen« als entscheidende politische Kategorie der westlichen Moderne herauszustellen. Damit ist der Anknüpfungspunkt für die kantische Grundlegung von Staat und Recht im 4. Kapitel vorbereitet (140–147).
Im 3. Kapitel wird anhand der Metapher von Christus als König und in Auseinandersetzung mit Römer 13 »Religion als Forum des Politischen« postuliert. Damit wird der Gefahr vorgebeugt, dass mit dem kantischen Ansatz die normative Dimension religiöser Kultur für eine aufgeklärte politische Ethik als obsolet angesehen werden könnte. Für diese Anlage ist die These: »Die Liebe überbietet die politische Vernunft, vereinnahmt sie aber nicht« (181; im Original kursiv) programmatisch.
Mit einem genealogischen Anmarschweg von Jerusalem und Athen in die Aufklärung werden im 4. Kapitel »Symbolische Ordnungen des Politischen« rekonstruiert. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten deutscher Universitätskultur, dass in Qualifikationsschriften bekannte Klassiker noch einmal dargestellt werden, auch wenn inhaltlich nur auf weitgehend akzeptierte Auslegungen zurückgegriffen wird. Der Vf. stützt sich insbesondere auf Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Er sieht die normativen Konzepte von Kants »Zum Ewigen Frieden« angesichts des Fortwirkens der Hobbesschen Realität (267) ausdrücklich als regulative Ideen an. Damit setzt er einen anderen Akzent als die Leitpersonen der Heidelberger Schule, die dazu neigen, diese eigentlich eschatologische Schrift systematisch überzuinterpretieren. Dies führt zu einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit des internationalen Rechts und internationaler Institutionen, wie sie etwa an den Defiziten der evangelischen Friedensethik angesichts des Ukraine-Krieges allzu deutlich wurden.
Darüber hinaus werden neuere Forschungen zur Aufklärung, die gerade in der Vernunftorientierung auch Potentiale der Abwertungen von Menschengruppen und Kulturen sehen und so selbst Gewalt produzieren, außer Acht gelassen. Schließlich zieht diese Staatszentrierung zwei weitere Probleme nach sich: Zum einen wird seit einiger Zeit nicht nur in post-kolonialen Ansätzen, sondern auch in der Globalgeschichte herausgearbeitet, dass gerade die Oktroyierung von westlichen Staatsstrukturen und eines auf Privateigentum basierenden Rechtsverständnisses zur Kolonialisierung, Ausbeutung und Versklavung der Völker Asiens, Afrikas und Amerikas beigetragen hat und in gewisser Weise noch beiträgt, wenn man an gegenwärtige Phänomene des land grappings denkt. Zum anderen zeigen aber auch die militärischen Interventionen z. B. in Afghanistan oder Mali, dass die Übertragung eines normativen Begriffs von Staatlichkeit in Regionen mit traditionell anderen Formen der gesellschaftlichen Organisation nicht zur Befriedung beiträgt, sondern geradezu konfliktverschärfend wirken kann.
Die zentrale Argumentation der Kant-Rekonstruktion für die Systematik der Arbeit ist, dass Freiheit nur durch Recht möglich wird, das Recht aber verteidigt werden muss. Deshalb muss jegliche legitime Gewalt dem Recht unterworfen sein. Dies ist systematisch einleuchtend, aber auch schon seit der Friedensdenkschrift 1981 weitgehender Konsens in der evangelischen Friedensethik. Die Frage ist vielmehr, ob das zur Orientierung in den gegenwärtigen weltpolitischen Konstellationen ausreicht.
Auch wenn die Gewalt zum Fluch werden kann, wenn sie nicht mehr ans Recht gebunden ist, so wird im 5. Kapitel ausgeführt, sei doch Gewalt als Mittel der Politik nicht völlig abzulehnen: »Wer allerdings Menschen jeglicher Gewalt berauben wollte, nähme ihnen die Möglichkeit, Recht aufzurichten, wirksam zu beanspruchen und sich durch Recht und Staat gegen Gewalt zu schützen« (291). Im Kern ist dies, was Luther in seinen Weimarer Obrigkeitspredigten genau vor 500 Jahren im Oktober 1522 erstmals ausführte und dann in der Obrigkeitsschrift im Jahr darauf publizierte, allerdings ohne die an Kant orientierte Schlussfolgerung: »Deshalb ist Gewalt politisch und rechtlich einzuhegen durch die Einrichtung republikanischer Staaten und eine Republik der Republiken, der Krieg ist abzuschaffen« (ebd.). Allein die »Christliche Ethik des Politischen« als Thema des 5. Kapitels wird dann auf fast 200 Seiten entfaltet. In weit ausgreifenden Genealogien werden nochmals das Verhältnis von Religion und Politik in der Geschichte des Chris-tentums sowie die Entwicklung von Macht und Herrschaft mit Blick auf militärische Gewalt, insbesondere das Humanitäre Völkerrecht, rekonstruiert.
Dies zeigt zwei sich durchziehende Probleme der Studie auf: Zum einen sind die Begriffe des Politischen, der Macht und der Gewalt nicht hinreichend systematisch geklärt. Wird im Titel eine Ethik der politischen Gewalt angekündigt, wird an anderer Stelle als Ziel identifiziert, Maßstäbe für die ethische Beurteilung staat-licher Gewalt zu entwickeln (31). Dann wird dezidiert eine evange-lische Ethik politischer Gewalt als Ziel angegeben (62, Anm. 76). In Kapitel 5.2 geht es dann ausdrücklich um »Fragen militärischer Gewalt«. Dies kann den Eindruck von Quisquilien vermitteln, aber damit sind ja jeweils andere systematische Fragen verbunden. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten in der politischen Theorie und der Friedens- und Konfliktforschung (die auch sonst nicht herangezogen wird), wäre zu überlegen, ob systematisch nicht der Begriff des Zwangs am geeignetsten wäre.
Zum anderen erhöht die stupende Belesenheit und enzyklopädische Gelehrsamkeit des Vf.s nicht immer die systematische Stringenz und Lesbarkeit der Studie. Hier hätte man sich eine klarere Strukturierung auch durch die Betreuung und einen stärken Eingriff des Lektorats gewünscht.
Zugleich ist dies allerdings auch eine Stärke des Buches: Es bietet ein Kompendium der europäischen politischen Philosophie, der Religionsgeschichte und der ethischen Theologie des Christentums. Damit wird der Ansatz der Heidelberger Schule, der ja wesentlich die evangelische Friedensethik in Deutschland von den frühen 1980er Jahren bis in die Gegenwart prägt, umfassend dargestellt und eingeordnet. Möglicherweise ist das auch ein Abschluss und eine erste Historisierung.
Die gegenwärtigen Herausforderungen werden vermutlich modifizierte Ansätze nötig machen. Dabei wird man aber auf die Grundlagen dieser Arbeit zurückgreifen können. Ein bleibendes Verdienst der Arbeit ist, im Kontext einer Tendenz zur pazifistischen Reduktion des Konzepts »Frieden durch Recht« die Notwendigkeit von Gewalt/Zwang zur Durchsetzung der Wahrung von Rechtlichkeit auch im zwischenstaatlichen Bereich pointiert herausgearbeitet zu haben.