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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

735–736

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Remele, Kurt

Titel/Untertitel:

»Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht«. Die ethische Wiederentdeckung des Gemeinwohls.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2021 (2. Aufl. 2022). 204 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783786732518.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Die Leser wissen nach der Lektüre nicht genau, welches Genre der Grazer katholische Ethiker mit diesem Werk bedient. Es könnte sich um einen theologischen Essay handeln, der Texte locker um das Thema Gemeinwohl gruppiert. Dagegen spricht allerdings der lange, sehr klein gedruckte Anmerkungsapparat, der eher auf eine wissenschaftliche Monographie hindeutet. Dagegen allerdings spräche, dass die Auswahl der Kapitelthemen erkennbar auf die Biographie und die Vorzugsthemen des Autors verweist. Kurt Remele hat Gastprofessuren in den USA und Großbritannien wahrgenommen, und deswegen wählt er seine Beispiele konsequent aus dem angelsächsischen Raum. Außerdem schimmert in der ökologischen Erweiterung des Gemeinwohlbegriffs seine Expertise für Fragen der Tierethik durch. Genauso spielt eine Rolle, dass der Vf. sich vegetarisch ernährt.
Der Vf. will mit seinem theologischen Essay eine Renaissance des Gemeinwohlgedankens und damit eine Überwindung von Privatismus und Individualismus erreichen. Mit dem Gemeinwohl sei vorausgesetzt, dass »menschliche Möglichkeiten und vermeintlich eigene Leistungen vorrangig den anderen Menschen, der übrigen Natur, glücklichen Zufällen und – aus theologischer Sicht – der Güte Gottes verdankte Möglichkeiten und Leistungen sind.« (9) Wiederholt zitiert er eine plakative Formel des amerikanischen Senators Paul Wellstone: »We all do better when we all do better.« (10 u. ö.)
Für R. besteht die Aufgabe darin, »den Gemeinwohlbegriff unter den Bedingungen und Herausforderungen der Gegenwart präziser zu definieren sowie anschaulicher zu beschreiben und gerade dadurch seine anhaltende Relevanz zu demonstrieren« (11). In dieser Absicht wiederum schimmert das Format einer wissenschaftlichen Monographie durch. Er versteht sein Unternehmen ausdrücklich als Bestandteil einer öffentlichen Theologie (12), die allerdings auf eine katholisch-ethische Weise profiliert wird.
Im ersten Kapitel (18 ff.) resümiert der Vf. die Zusammenarbeit des anglikanischen Bischofs Sheppard und des katholischen Bischofs Worlock im Liverpool des 20. Jh.s. Er erzählt von ihrer Kooperation als einem gelungenen Beispiel kirchlich-ökumenischer, lokaler Gemeinwesenarbeit in einer Stadt, die von ökonomischen Krisen und dem Gegeneinander der katholischen und anglikanischen Kirche geprägt war.
Im zweiten Kapitel analysiert R. englischsprachige katholische und anglikanische Dokumente zur Soziallehre des Gemeinwohls. In diesem Kontext präzisiert er seinen Begriff der öffentlichen Theo-logie, die er versteht als eine »Form von kontextsensibler ökume-nischer Theologie, die sich in die Gesellschaft einmischt. Sie will politisch-ethische Streitfragen aus christlich-theologischer Perspektive und mit vernünftig begründeten und intersubjektiv kommunizierbaren Argumenten in den zivilgesellschaftlichen Diskurs einbringen und dabei die Anwaltschaft für die Schwachen übernehmen.« (34 f.) Im Vergleich zu evangelischen Entwürfen öffentlicher Theologie nimmt er Voraussetzungen und Thesen der Befreiungstheologie stärker auf. Damit kommt er zu einer Sozialethik, die nicht am einzelnen Individuum, sondern am Gemeinwohl orientiert ist, ohne darüber den Einzelnen zu vernachlässigen (61).
Im dritten Kapitel (64 ff.) informiert der Vf. über die katholische Theorie des Gemeinwohls. Er hält an der universalen Perspektive des Gemeinwohls fest, verwahrt sich gegen rechtspopulistische Umdeutungen und räumt die Ideologieanfälligkeit des Begriffs ein. Ausführlich rezipiert er den Kommunitarismus und Robert N. Bellahs Studie über die Habits of the Heart. Er spricht von einer Dynamisierung des Gemeinwohls und reflektiert über mögliche globale Perspektiven, die den Horizont des Begriffs erweitern können. Am Ende seiner Reflexionen gelangt er zum Begriff eines personorientierten Gemeinwohls (83), den er gegen partikularistische Bestrebungen wie die Politik der Rechtspopulisten, aber auch gegen binnenkatholische Verkürzungen verteidigt. Das belegt er mit dem Beispiel der männlichen Gewalt innerhalb von Ehen und Familien (96–99). In diesem Fall müsse es für Frauen trotz des katholischen Gebots der Unverbrüchlichkeit der Ehe erlaubt sein, eine toxische Gemeinschaft mit einem Mann aufzulösen. Wenn man das so sieht, wäre auch – der Vf. tut das nicht – der sexuelle Missbrauch innerhalb der Kirchen zu erwähnen, denn dabei handelt es sich auch um eine Verletzung der gemeinwohlorientierten Aufgabe der Kirche, Menschen in Not zu helfen.
Im vierten Kapitel (105 ff.) erweitert der Vf. den Gemeinwohlbegriff auf Erde und Natur. Er spricht über Klimakrise, Wachstum und Globalisierung. In diesem Zusammenhang kommt er ausführlich auf die Fledermäuse (123 ff.) zu sprechen. Am Ende steht eine ökologisch reformulierte Sozialethik (137 f.). Konkret zieht R. daraus die Schlussfolgerung, auf das Essen von Fleisch zu verzichten (143).
Im letzten Kapitel (146) kehrt der Vf. zu den beiden Bischöfen vom Anfang zurück und begründet, weshalb sie gerade in ihrer ökumenischen Kooperation und in ihrem Wirken für die Stadt als gemeinwohlpolitische Vorbilder präsentiert werden können. Die Orientierung am Begriff des Gemeinwohls weist für den Vf. den Mittelweg zwischen dem Rückzug des Glaubens ins Private und Übergriffen des Religiösen auf das Politische (146).
Es schließen sich Reflexionen über das Eingreifen oder »Wirken« (R. Bernhardt) Gottes in der Welt an, gerade auch in der Covid-Pandemie (151–153). Aber leider reiht der Vf. hier einfach nur Zitate nebeneinander, ohne die verschiedenen Positionen richtig zu diskutieren. In diesem Abschnitt erscheint das Werk als entschieden zu essayistisch. Nach weiteren Verweisen auf die theologischen Entwürfe von Hauerwas und Milbank kommt der Vf. zur abschließenden Forderung nach einem praktischen, lokal orientierten und sozialethisch sensiblen Christentum, das nah an den Menschen und ihrem Alltag angesiedelt ist.
Im Ergebnis lässt sich sagen, dass für deutschsprachige Leser das durchgängige Einspielen englischsprachiger theologischer Kontexte von Gewinn ist. Das ist die große Stärke des Buches. Ob die von R. behandelten Sachthemen alle ausreichend und in der Tiefe behandelt wurden, mag in einigen Fragen (Tierethik, Kommunitarismus, ökologische Ethik, Gottesfrage) offenbleiben. Genauso mag offenbleiben, ob es sinnvoll ist, all diese Themen unter den doch sehr allgemeinen Begriff des Allgemeinwohls zu subsumieren.