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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

733–734

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hofheinz, Marco, u. Cornelia Johnsdorf[Hgg.]

Titel/Untertitel:

The Grand International Challenges. Theologisch-ethische Perspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 307 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170400481.

Rezensent:

Roger Mielke

Die Wendung »Grand International Challenges« ist im englischen Sprachraum geläufig für global dimensionierte politische Aufgaben. Dies nimmt der vorliegende Band auf. Es handelt sich hier um zwölf Beiträge zu einer Ringvorlesung, die für das Sommersemes-ter 2020 in Hannover geplant war, aufgrund der ersten Welle der Corona-Pandemie nicht in Präsenzform gehalten werden konnte. Die einzelnen Themen sind: Corona (Mathias Wirth), Welthunger (Marco Hofheinz und Cornelia Johnsdorf), Migration (Margit Ernst-Habib), Weltfrieden (Marco Hofheinz), Klima (Stefan Heuser), Menschenrechte (Frank Mathwig), Geschlechtergerechtigkeit (Sarah Jäger), Bioethik (Michael Coors) und Digitalisierung (Friederike van Oorschot). Der Band schließt mit zwei konzeptionellen Beiträgen zu »Politischer Gerechtigkeit« (H. G. Ulrich) und »transnationaler Solidarität« (M. Hofheinz). So unterschiedlich die Eindringtiefe der einzelnen Beiträge auch ist, verdanken sie sich doch einer gemeinsamen Perzeption. Alle Beiträge behandeln »Herausforderungen«, wie man heute zu sagen pflegt, von globaler Reichweite, die auf lokales Handeln bezogen und in dieser Ambivalenz von Globalität und Lokalität ethisch reflektiert und theologisch perspektiviert werden. Leitbegriffe sind Gerechtigkeit und Solidarität, angesichts wachsender Komplexität und weltweiter Verflechtung einerseits, der in multiplen Krisen sich zeigenden Tendenzen der Entkopplung oder Deglobalisierung andererseits.
Der Beitrag des emeritierten Erlanger Ethikers Hans G. Ulrich gibt den ethiktheoretischen Anspruch des Gesamtunternehmens vor. Eine Reihe von Autoren gehört zu seinen Schülern und Weggefährten. Ulrich verfolgt seit Langem das Projekt einer praxeologisch angelegten theologischen Ethik. Sein Beitrag »Politische Ge­rechtigkeit« (247–273) entwickelt einen Begriff politischer Gerechtigkeit, die nicht einer Praxis normativ gegenübergestellt wird, sondern vielmehr aus den in politischer Praxis immer schon inkorporierten kommunikativen Gerechtigkeitspraktiken expliziert wird. Manche Wege führen hier nach Frankfurt a. M.: Habermas und Forst werden rezipiert, zu denken ist auch an Honneths »Das Recht der Freiheit«. Die so verstandene politische Gerechtigkeit zeigt sich als »begründete und rechtfertigungsfähige Machtausübung« (257), sie ist vorinstitutionell, in einer »›anarchischen‹ Praxis« (273) gegründet, generiert aber Institutionen. Die besondere theologische Dimension politischer Gerechtigkeit liege darin, »einen Ort freizuhalten, an dem Menschen als die erscheinen, die niemandem unterworfen sind«, eine Chiffre für das Konzept der Menschen-würde (268).
Der Beitrag von Marco Hofheinz (275–305) schließt den Band und bündelt die einzelnen Perspektiven. H. spricht sich für eine »maßvolle Vermittlung transnationaler Solidarität« (275) aus. »Solidarität« wird hier in aristotelisch-tugendethischer Perspektive als Ge­danke der Mitte (mesotes) konzipiert, jenseits eines Exklusivismus, der Solidarität an eine gegebene Gemeinschaft bindet und damit begrenzt, und eines Inklusivismus, der sich kosmopolitisch überdehnte. H. entwickelt im Gespräch mit dem Soziologen Heinz Bude und unter Rückgriff auf reformierte bundestheologische Traditionen eine Ekklesiologie der Kirche als (Lern-)Ort von Solidarität.
Nur wenige Bemerkungen zu einzelnen Beiträgen. Stefan Heuser (121–133) weist darauf hin, dass die in der Klimadebatte be­schworene »große Transformation« auf eine neue Lebensform zielen muss, auf soziale Praktiken des Alltags, »in denen Menschen Gewohnheiten durchbrechen und neu anfangen«. Dies könne nur durch einen »Einbruch« (131) geschehen, in dem Neues eröffnet werde.
Frank Mathwig (133–178) rekonstruiert in seinem eindrücklichen Beitrag »Menschenrechte in der Krise« eine Geschichte der Menschenrechte, die zwar säkulares Projekt seien, entstanden aus katastrophalen Unrechtserfahrungen, aber doch deutungsoffen für unterschiedliche theologische Reflexions- und Begründungsfiguren. Bedeutsam ist auch hier die Aufnahme bundestheologischer Theologoumena, die eine Form von Relationalität formulieren, die nahe bei dem liegt, was rezente politische Theorie, etwa bei H. Arendt oder J. Butler, mit anderen begrifflichen Mitteln formuliert.
Der Beitrag von Matthias Wirth (37–50) skizziert Veränderungen in Praxis und Begriff von »Verantwortung« in der CoVid19-Pandemie. Bis zu »Überforderung« verschärfte »Druckverhältnisse« ergeben sich aus globaler Entgrenzung von Verantwortung einerseits und lokaler Zuspitzung, etwa angesichts möglicherweise nötiger Triage. Im Beitrag von Marco Hofheinz und Cornelia Johnsdorf (51–80) zum Problem des Welthungers beeindruckt der schrifttheologische Zugang von der Bergpredigt her, der es ermöglicht, Solidarität nicht in erster Linie als moralische Pflicht im Umgang mit Knappheit zu konzipieren, sondern von »Gottes Ökonomie« her und das heißt im Horizont einer »Ethik der Fülle«. Margit Ernst-Habib (81–101) schreibt über Migration als »Erkenntnisort von Theologie«, der ekklesiologisch Kirche als Pilgergemeinschaft modelliert, vielleicht aber, trotz erhellender Gedanken zum Heimatbegriff, kurzschlüssig zu einer Apotheose von Bewegung und Veränderung führen kann, die Muster der Moderne unkritisch fortschreibt. Sarah Jäger (179–204) entwirft in ihrem Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit von Grundfiguren feministischer Theologie her eine an Körperlichkeit orientierte Ethik, in der Teilhabe, Anerkennung und Kontextspezifität zentrale Bezugspunkte sind. Michael Coors (205–227) pointiert kundig die ethische Problematik von Keimbahneingriffen in dem Dilemma, dass der Übergang von experimentellen Keimbahneingriffen in die klinische Forschung eine »hinreichende Sicherheit« mit Blick auf Langzeitfolgen erfordere, die aber erst in klinischer Forschung zu gerade diesen Langzeitfolgen gewonnen werden können. Friederike van Oorschot (229–245) beschreibt Digitalität als Medienkultur, die ein spezifisches Wissensregime zur Folge habe. Damit einher gehen Subjektivierungsweisen, die Formen von »agency« schließen und andere öffnen. Pneumatologie wird zur Schlüsseldisziplin einer theologischen Reflexion auf Digitalität.
In den gelungeneren Beiträgen des in sich ausgesprochen heterogenen Bandes zeigt sich die Leistungsfähigkeit einer praxeologisch und tugendethisch reflektierten theologischen Ethik. Die globalen »challenges« werden auf lokale Verantwortungs- und Praxiszusammenhänge hin umgebrochen und in Praktiken des Glaubens gegründet. Eindrücklich ist die Bindung der Ethik an Schriftauslegung, die Perspektivenverschiebungen und Öffnungen er­möglicht. Damit zeigen sich allerdings auch die Grenzen: die konkreten institutionellen Rahmenbedingungen der politischen Ordnung geraten aus dem Blick, Staatlichkeit und Demokratie etwa als Ermöglichungs- und Restriktionsbedingungen politischer Praktiken. Der Versuchung, luftigen Kosmopolitismus und parochiale Identitätspolitik schlicht nebeneinander zu stellen, entgehen nicht alle Beiträge. Und: Insgesamt hätte dem Band ein sorgfältiges Lektorat gutgetan.