Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

729–730

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Riedl, Anna Maria

Titel/Untertitel:

Judith Butler and Theology.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2021. XII, 166 S. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783506715081.

Rezensent:

Bernhard Grümme

Judith Butler ist sicher eine der umstrittensten Denkerinnen der Gegenwart. Von den einen als Vordenkerin der Gendertheorie gefeiert, wird sie von anderen als Ideologin gebrandmarkt, deren Dekonstruktivismus alle Ordnungen infragestellt. Dabei sind in der Sicht der katholischen Sozialethikerin Anna Maria Riedl theologisch die Provokationen wie die Anschlussmöglichkeit von Butlers Werk nicht gehoben. Doch wie? Wie soll Butlers weitverstreutes Werk präsentiert werden, ohne ein System zu konstruieren, das bereits performativ dem alteritätstheoretischen, poststrukturalis-tischen Ansatz Butlers widerstreiten würde? R. entscheidet sich für eine genealogische Rekonstruktion, die mit der Einsicht in diachrone Veränderungen zugleich Neuakzentuierungen im Denken Butlers zu erheben erlaubt. R.s Interesse liegt darin, die Fixierung der Butler-Rezeption auf die Gendertheorie aufzubrechen und sie stattdessen als Denkerin der Anerkennung und damit als Denkerin eines Postsouveränen Subjekts und einer Postsouveränen Ethik zu präsentieren, um einen echten Dialog mit der Theologie zu ermöglichen. Folgerichtig gliedert R. ihr Werk in zwei Teile, die jeweils als sie selber gelesen werden können. Teil A führt chronologisch in Butlers Philosophie ein, ohne diese theologisch zu vereinnahmen. Sodann wird in Teil B ein Dialog mit der Befreiungstheologie, der Politischen Theologie und der Prophetischen Kritik unternommen. Insgesamt will R. den Teil B als »blueprint for a theology of vulnerability« (XII) verstanden wissen.
Teil A (3–107) ist seinerseits in fünf Kapitel gegliedert, in denen die intrinsische Verbindung von Macht, Diskurs und Performativität beleuchtet wird. Daraus ergeben sich Einblicke in den konstituierenden Zusammenhang von Normen, Gendertheorie und Subjektbegriff, die dann im Gespräch mit Foucault und Freud auf das Subjektivierungstheorem zugeführt werden.
Auf dieser subjekttheoretischen Basis wird es R. nun möglich, die Umrisse eines postsouveränen Subjekts zu skizzieren. Das Faszinierende an diesen Ausführungen liegt darin, dass R. gegenüber vielen Missverständnissen Butlers eine konstellative, hoch fruchtbare Spannung zwischen dem Anderen und einer asymmetrischen Intersubjektivität, zwischen Vulnerabilität und gerechtigkeitsrelevantem Prekariat sowie zwischen Alterität, Reflexivität und verantwortlicher Handlungsmacht konstruiert (43–66). Daraus kann R. dann eine Postsouveräne Ethik ableiten, die sich auf Gewaltfreiheit und alteritätstheoretisch begründete Ethik fokussiert, die ihrerseits auf einer anerkennungstheoretisch grundierten Epistemologie fußt. Gleichwohl wird wiederholt durch den Rekurs auf den Subjektivierungsgedanken die Differenz zu den als idealistisch qualifizierten prominenten Anerkennungstheorien Axel Honneths wie Charles Taylors markiert, die in R.s Sicht bereits von einem vorauslaufenden Subjekt ausgehen, das anzuerkennen ist, die dabei aber die formierenden hegemonialen wie subjektivierenden Prozesse unterschätzen.
Eine solche Postsouveräne Anerkennungstheorie birgt nun in Teil B (111–152) Potential für die genannten Felder der Theologie. Wird der Befreiungstheologie verschiedentlich vorgeworfen, identitätstheoretisch schwach zu bleiben und dabei in ihrem Rekurs auf die Aufklärung eine kritische Selbstreflexion der hegemonialen Aspekte ihrer Epistemologie zu unterlassen, wäre dies genau der Punkt, wo Butler relevant sein könnte. Zeige sich die Neue Politische Theologie wegen der angeblichen Normativitäts- und Subjektschwäche strikt abweisend gegenüber poststrukturalistischen wie postmodernen Theorien, könnte Butlers Subjekttheorie aufzeigen, wie gleichermaßen ein handlungsfähiges wie verwundetes Subjekt denkbar wäre. Und bleibt schließlich theologisch das Verhältnis zwischen Universalität und Partikularität prekär, könne man etwa im Blick auf die biblischen Propheten von Butlers Hermeneutik lernen, wie ein inhaltlich profilierter Zugriff durchaus universale Relevanz haben kann.
Die hier in ihrem Reichtum nicht zu benennenden Einsichten R.s bahnen dabei durchaus Perspektiven für eine theologische Rezeption Butlers. Dabei ist es allerdings charakteristisch, dass R. das Potential Butlers für die Theologie freilegt, aber nicht mögliche Beiträge der Theologie für Butlers Denken selber. Insofern ist dies im strengen Sinne nicht der Dialog, den R. eigentlich intendiert (XI). Teil A ist die englische Übersetzung eines Auszugs aus R.s preisgekrönter Dissertation zum Kindeswohl von 2016. War dort wegen des veränderten inhaltlichen Fokus eine dezidierte Herausarbeitung von Kritik nicht zentral, so wäre dies in diesem Buch jedoch nötig gewesen. Nicht selten werden Gegenpositionen nicht hinreichend aus deren Eigenlogik rekonstruiert und in einen kritischen Diskurs gebracht. Inzwischen sind verschiedentlich Butler und Honneth in einen überaus produktiven Dialog getreten. Das wird von R. ebenso nicht rezipiert wie mittlerweile erschienene Werke, die dezidiert aus verschiedenen Feldern der Theologie das Gespräch mit Butler suchen und entgegen ideologischer Aufladung für viel Differenziertheit insbesondere hinsichtlich des Subjektbegriffs sorgen.
Damit bleibt ein etwas ambivalentes Fazit: Die Rekonstruktion von Butlers Philosophie ist kenntnisreich, gewinnbringend, weiterführend, teilweise brillant. Nur wäre der spezifische Beitrag R.s zu dieser Debatte, an der sie im Übrigen selber teilhat, noch profilierter ausgefallen, hätte sie einen echten Dialog eröffnet.