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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

727–729

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Diebitz, Stefan

Titel/Untertitel:

Die Vielfalt des Seins. Warum jeder Monismus scheitern muß.

Verlag:

Hannover: der blaue reiter | Verlag für Philosophe 2021. 416 S. Geb. EUR 46,90. ISBN 9783933722744.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Dieses Buch hat es in sich – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist es sehr dicht geschrieben und schöpft in allen Bereichen aus dem Vollen. Auch wenn man es wie Stefan Diebitz gewohnt ist, schwierige philosophische Texte zu lesen, so muss man dieses Buch immer wieder nach spätestens zehn Seiten beiseitelegen, um das Gelesene zu reflektieren. Aber sollte das ein Schade sein?
Dann aber ist das Buch auch in der Hinsicht ungewöhnlich, als dass D. sich sämtlichen Modeströmungen, die heute in sind, verweigert: der Analytischen Philosophie, dem Pragmatismus, der Analytischen Wissenschaftstheorie, der Diskursethik, der Postmoderne usw. Dagegen greift er auf Philosophen zurück, die heute oft vergessen sind: Nicolai Hartmann, Max Scheler, Henri Berg-son, José Ortega y Gasset, Ernst Cassirer, Hermann Cohen, Hans Driesch, Martin Heidegger, Edmund Husserl, aber auch Leibniz, Kant und Hegel werden wichtig. Nicht, dass er neuere Autoren nicht gelesen hätte, aber offenbar – und mit guten Gründen – ist er der Meinung, dass es in der ersten Hälfte des 20. Jh.s eine Reihe von großartigen Philosophen gegeben hat, die wir in Gefahr sind zu vergessen und an denen man Maß nehmen könnte.
Zudem schöpft er auch in der Kunst aus dem Vollen: Goethe, Hölderlin, Rilke, Novalis, Jean Paul usw. Das sind aber nicht einfach nur Bildungsreminiszenzen, sondern die Dichtung gehört hier substanziell mit zur Philosophie, wie auch D.’ Stil flüssig, geistreich und manchmal sogar wortschöpferisch ist. Was er über andere sagt, gilt auch für ihn selber: »Philosophen sind keine Dichter, wohl aber Meister der Sprache.« (372)
Zunächst einmal räumt er scharfzüngig, polemisch, aber auch scharfsinnig mit dem heute herrschenden szientifisch-monistischen Materialismus auf, also vor allem mit Autoren wie Richard Dawkins oder Daniel Dennett. Die Wirklichkeit ist nicht von der Art, dass sie sich einem einzigen Prinzip erschließt. Er vergleicht sie gerne mit einem Teppich, aus dem wir wohl verschiedene Fäden herausziehen können, aber das Ganze des Teppichs ist nicht die Summe solcher Fäden. Der Teppich, das ist die Lebenswelt, die aller Wissenschaft vorausliegt und auf die sie immer verwiesen bleibt.
Dieser ist zu komplex und zu vielfältig, um sich einem monolothischen Verfahren zu erschließen auch dann, wenn man mit Dawkins »Meme« einführt, um die Kultur zu biologisieren, oder wenn man Begriffe wie »Information« oder »Energie« pseudometaphysisch zur Weltwurzel hochstilisiert wie bei dem Physiker Thomas Görnitz oder seit Crick und Watson in der Genetik bis hin zu Bernd-Olaf Küppers’ biologischer Informationstheorie. Sehr geistreich zeigt er auf, dass solche Begriffsverschiebungen gleichermaßen in der Esoterik und im szientifischen Materialismus vorkommen.
Wenn also D. an einer unreduzierbaren Schichtentheorie der Welt nach Nicolai Hartmann festhält, dann muss er sich an der Evolutionstheorie abarbeiten, die gerade dies leugnet. Er muss also Kontinuität und Diskontinuität zusammendenken. Das ist ja in der Tat der Fehler der Monisten, dass sie aus der Tatsache der kontinuierlich-evolutiven Verkopplung schließen, dass es nichts Neues in der Natur geben kann. Aber dann müsste alles schon im Urknall enthalten gewesen sein. Stattdessen hält er am unreduzierbar Neuen in der Natur fest und verweist auf Phänomene der unreduzierbaren Komplexität, die aber nicht nach Art von »Intelligent Design« als Resultat eines überweltlichen Designers gedacht werden.
Der Reichtum an Ideen in diesem Buch kann nur angedeutet werden: Er handelt über die Unreduzierbarkeit des Bewusstseins, über einen vollen Begriff von »Wahrnehmung«, der wie bei Merleau-Ponty mehr ist als Sinnesaffektionen, über Metapher, Analogie und Symbol oder über Ausdrucksverhalten – ein Thema, über das er schon früher ein eigenes Buch geschrieben hatte. Eine wahre »Summa Diebitziana«! Er spricht über Witz, Scharfsinn und Tiefsinn, über Empathie und Supervenienz und über vieles andere mehr.
Manche Ausführungen verlangen dem Leser viel ab. So seine Überlegungen zum Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Realität oder zur Vermitteltheit zwischen Realem und Idealem, die immer nur verschränkt vorkommen. Das letzte Kapitel handelt über »Bildung und Philosophie«, das die vorhergehenden Überlegungen mit der existenziellen, vor allem aber historischen, Befindlichkeit des Menschen verbindet.
Wie lässt sich ein solches, reichhaltiges und ungewöhnliches, 400 Seiten starkes Buch, mit einer winzigen 11-Punkt-Schrift, in einer kurzen Rezension besprechen? Eigentlich gar nicht. Man sollte dieses Buch lesen. Es ist im Prinzip nicht referierbar, so wie der Klavierauszug einer Sinfonie eher läppisch wirkt. In der Informationstheorie gilt: Ein Ausdruck ist umso informationshaltiger, je weniger er sich algorithmisch komprimieren lässt, d. h. je weniger wir imstande sind, eine Formel zu erfinden, aus der sich alles Übrige ergibt. So gesehen ist dieses Buch ein Informationsmaximum und deshalb schwer rezensierbar. Man muss es lesen.
Vielleicht noch eine Bemerkung zum weltanschaulichen Hintergrund. D. bekennt sich zum Atheismus. Das ist etwas gewöhnungsbedürftig aus zwei Gründen: Wenn er nach Nicolai Hartmann davon ausgeht, dass es vier Seinsstufen gibt, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, und dass die untere die höhere nicht »begreift«, dann könnte es doch noch einen höheren, göttlichen Bereich ge­ben, über den wir dann nichts wissen könnten (239)? Damit wäre lediglich ein Agnostizismus, aber kein Atheismus verträglich. Dasselbe gilt für die Genese dieser vier Seinsstufen. Wie macht es die Natur, sie hervorzubringen? D. ist mit Recht der Meinung, dass der Begriff der »Emergenz« nichts erklärt. Aber was erklärt dann dieses überraschende Hervorgehen? Peirce und Whitehead setzen an dieser Stelle eine göttliche Kraft im Universum an und das ist ebenfalls kein Atheismus und es dürfte kein Zufall sein, dass D. zuweilen mit einem werdenden Gott sympathisiert (54). Das wäre das Minimum, was er unterstellen müsste.