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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

725–727

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Die Krise der öffentlichen Vernunft. Über Demokratie, Urteilskraft und Gott.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 333 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783374070565.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Es lohnt sich, am Ende zu beginnen. Denn in den finalen Abschnitten »Menschen als Geschöpfe« und darauffolgend »Demokratie und Gott« wird Ingolf U. Dalferths theologische Begründung der Demokratie in der Orientierung an Gottes Gegenwart, auf die das Buch zielt, besonders leuchtend und klar. Ganz simpel: »Dieses Leben sieht anders aus, wenn sich die Menschen an Gottes Gegenwart orientieren, als wenn sie das nicht tun.« (286) Allein daraus resultiere eine kritische weltanschauliche Offenheit, die sich weder eines Konzepts öffentlicher Vernunft noch einer deliberativen Demokratie im Sinne von Jürgen Habermas – des großen Gegenspielers in diesem Buch – bedienen müsste. Auch werde nicht unterstellt, dass irgendwie alle oder nur die Mehrheit recht hätte, sondern alles setze darauf, »dass die Wirklichkeit erweisen wird, was wahr ist und was nicht« (287).
Was es in der Demokratie bräuchte, sei die Referenz auf »das Dritte«, vor dem allein alle Verschiedenen gleich seien. Dafür sei aber letztlich nicht das Gesetz oder die Sterblichkeit der Menschen geeignet, sondern allein »der ultimative Dritte«: Gott. Im Gottesgedanken sei die Grunderfahrung des Menschen, nicht durch sich selbst da sein zu können, symbolisiert (259). Sie mache Menschen zu Nächsten, weil sie »wissen, dass sie gemeinsam vor einem Dritten stehen, über den keiner von ihnen verfügt und dem jeder Rechenschaft dafür schuldet, wie er mit den Möglichkeiten um­geht, die ihm an seinem Ort zugespielt werden« (255). So könne jeder vorgegebene Grenzen, und damit seine reale Freiheit, anerkennen und gestalten. Es entstünde ein Wir, das nicht, wie in der klassisch liberalen Konzeption, aus nur durch ihren Nutzen aneinander gekoppelten Gegnern, sondern aus gemeinsam Angewiesenen erwächst.
Die Argumentation gewinnt erheblich an Profil, wenn man D.s Gegenüberstellung von »Ochlos« (Masse, Pöbel) und »Demos« (Volk) in den Fokus rückt. Im ersten herrscht ein sozusagen neoliberaler Grundzustand. Jeder agiert zuerst als Ego und verfolgt seine Interessen mit und gegen andere, die potenzielle Konkurrenten sind. Gut ist nur, was mir nützt. Das Wir ist lediglich eine Ansammlung der Ichse (221). Selbst Sorge dient nur der eigenen Entlastung. Alles tendiert zum ochlotischen Mob. In dieser Richtung unterliegen die vielen Communities in den Social Networks, die sich über emotionale Zustimmung, Gesinnung und Haltung reproduzieren, seiner Kritik. Dagegen tritt im Demos die freie Selbstbegrenzung aller, die sich als »Du eines Dritten kennen« (222), letztlich als seine Geschöpfe. Freiheit ist so durch einen gemeinsamen Grund gegeben und nicht durch die letztlich immer willkürliche Abgrenzung zum anderen. Man begreift sich als ein »Wir der Geschöpfe«, das sich »an der Gegenwart einer Macht orientiert, ohne die es die eigene nicht gäbe, weil man sonst nicht da wäre« (249).
D. argumentiert auf diese Weise mit aller Energie gegen eine selbstermächtigte, säkulare öffentliche Vernunft, vor der Religion und Theologie von vornherein nicht bestehen können und Glaube bestenfalls im Privaten gepflegt werden kann. Deswegen weist er die Ausgrenzung von religiösen Argumentationen aus der liberalen Öffentlichkeit zurück (144 ff.). Faszinierend ist die Kritik an Habermas’ mittlerweile viel diskutiertem Luther- und Hegel-Kapitel in dessen Geschichte der Philosophie. Hegel hätte mit Luther gewusst, dass sich wahre Freiheit eben nicht durch die kommunikative (Selbst-)Vergesellschaftung von Subjekten einstellen könnte. »Nur, wenn in unseren Interaktionen mehr geschieht als wir intendieren und vollziehen, wird wahre Freiheit real.« (170) Daraus folgt D.s These: Vernunft sei »zuerst und vor allem durch die Passivität des Vernehmens der Wirklichkeitswahrnehmung anderer charakterisiert« (171).
Die hier referierten theologischen Positionierungen werden nicht als dogmatische Axiome eingeführt, sondern kommen in der philosophischen Entfaltung der Frage nach der Möglichkeit von Demokratie überhaupt zum Tragen. D.s Ausgangspunkt ist dabei die Wirklichkeit des Dritten, Gottes, und nicht ein begriffliches Konzept des Göttlichen (181). »Der Gottesgedanke ist daher im Kern ein Transzendenzindex, der in allem Möglichen und Wirklichen der Immanenz die Gegenwart der schöpferischen Transzendenz an­zeigt.« (182 f.)< /span>
Das Buch beginnt (I. Teil) mit einer Einführung in Grundfragen (und Defizite: Ein Drittes wird nicht gedacht) der Demokratie zwischen Deliberation und Identitätspolitik und führt dann (II. Teil) eine ausführliche Auseinandersetzung mit Habermas’ Verständnis von Öffentlichkeit und Diskurs und alternativ dazu mit dem Kommunitarismus. Über die Diskussion der Rolle von Universität und Wissenschaft wird die Theologie unter der Überschrift »Öffentlichkeit vor Gott« zum Thema. Sie sei die Öffentlichkeit, ohne die es keine anderen Öffentlichkeiten gibt (129). Das aber könnte nur von »Beteiligten« erfahren werden (130). Der III. Teil: »Die Krise der Vernunft« beginnt mit einer verblüffenden These: »Für das Leben in der Öffentlichkeit vor Gott ist der gesellschaftliche Pluralismus kein prinzipielles Problem.« (133) Hier kritisiert D. liberale Demokratiekonzeptionen wie die von John Rawls, die Religion als den heteros nomos aus dem öffentlichen Vernunftgebrauch ausgrenzen. Im IV. Teil leistet D. eine Art Einführung in Grundfragen einer Philosophie der Urteilskraft mit dem Ziel einer allgemeinen Grundlegung der Demokratie: »Nur das, was auch der nicht negieren kann, der sich gegen die Demokratie wendet, kann die Demokratie begründen.« (187) Schließlich wird im letzten, V. Teil »Das Dritte« bzw. der ultimative Dritte behandelt, womit der Höhepunkt der Argumentation erreicht ist.
Wird das ehrgeizige Ziel, die Überlegenheit einer theologischen Grundlegung der Demokratie zu demonstrieren, eingelöst? D. scheut sich in dieser Hinsicht vor keinem Konflikt mit seiner liberalen Gegnerschaft. Die Sympathie derjenigen, die an einem öffentlichen Gebrauch des Glaubens festhalten wollen, ist ihm sicher. Sein Insistieren auf der allem vorgängigen Wirklichkeit Gottes überzeugt: Gott ist gewiss keine Ressource für gesellschaftliche Steuerungsprobleme. Gott ist die konstitutive transzendente Referenz, ohne die Vernunft nicht vernünftig sein kann. Dennoch sind einige der theologischen Kehren im Text arg überraschend. Natürlich: Die Rolle Gottes als des Dritten ist »gegeben« – aber im Text erscheint sie dennoch allzu oft als willkürlich gesetzt und irritiert eher, als dass sie zwanglos überzeugt.
Was bleibt, ist die Frage nach der realen »Erfahrbarkeit« des Dritten. In welcher Weise erfolgt die Referenz auf Gott praktisch? Dazu wird nichts gesagt – als würde der schöne hochabstrakte Diskurs durch Mythen und Narrationen der religiösen Traditionen oder gar ihrer rituellen Praktiken (Kirche kommt nicht vor!) beschmutzt werden. Insofern fragt sich auch, um welchen Gott es hier eigentlich geht. Sicherlich ist der christliche gemeint, was aber wohl deswegen nicht entfaltet wird, da dann sofort der Kommunitarismus-Verdacht über die ganze Denkbewegung hereinbrechen würde. Aber ist das wirklich zu vermeiden?