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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

723–725

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Campbell, Richard

Titel/Untertitel:

Rethinking Anselm’s Arguments. A Vindication of his Proof of the Existence of God.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 536 S. = Anselm Studies and Texts, 1. Geb. EUR 125,00. ISBN 9789004358263.

Rezensent:

Katrin König

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Campbell, Richard: A Cosmological Reformulation of Anselm’s Proof That God Exists. Leiden u. a.: Brill 2022. XII, 491 S. = Anselm Studies and Texts, 5. Geb. EUR 149,00. ISBN 9789004471504.


Richard Campbell begründet in seinem neusten Buch »A Cosmo-logical Reformulation of Anselm’s Proof That God Exists« (2022) eine kosmologische Reformulierung von Anselm von Canterburys Argument für die Existenz Gottes in Proslogion 2–3. Dabei führt er Kernthesen seines vor fast 50 Jahren erschienenen Buchs »From Belief to Understanding« aus und führt Argumente aus dem 2018 erschienenen Buch »Rethinking Anselm’s Arguments« (2018) weiter in Auseinandersetzung mit Einwänden u. a. von Kenneth John Crispin und Bernd Goebel. C. macht als emeritierter Professor für Philosophie an der Australian National University damit detailreich Einsichten seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Anselms Argument für die Existenz Gottes in der neuen Reihe Anselm Studies and Texts Band 5 einem interessierten Fachpublikum zugänglich.
C. kritisiert in einem ersten Schritt die seit Kant geläufige Klassifikation und Interpretation von Anselms Argumentation im Proslogion als ontologischen Gottesbeweis (A Cosmological Reformulation 1–26). In einem zweiten Schritt unterbreitet er eine alternative Rekonstruktion von Proslogion 2–3. Mit Einbeziehung von Anselms Antwort auf Gaunilos Einwände analysiert er dies als dreischrittiges Argument (37–108). Dies wurde bereits in dem vorherigen Buch »Rethinking Anselm’s Arguments« detailliert dargelegt. Davon ausgehend entwickelt C. eine eigene weiterführende kosmologische Reformulierung und formuliert Gründe für ihre Übereinstimmung mit Einsichten moderner Kosmologie (145–331). In einem dritten Schritt werden meta-theoretische Fragen zu Interpretationskriterien des unum argumentum und zur Gegenwartsrelevanz diskutiert (332–452).
Die Kritik der seit Kant geläufigen Klassifikation und Interpretation von Anselms Argumentation im Proslogion als ontologischem Gottesbeweis stützt C. auf mehrere Gründe (1–26). Zum einen beachtet er hermeneutisch die Einbettung ins Gebet wie in offenbarungstheologische und kontemplative Interpretationen (8–14). Zum anderen stellt er sprachlogisch die Deutung der Prämisse in Frage, dass es sich bei der Aussage »das, worüber größeres nicht gedacht werden kann« um eine Definition des Gottesbegriffs handelt (18–22). Schließlich weist er rezeptionsgeschichtlich darauf hin, dass bereits Thomas von Aquin fälschlich Bonaventuras Reformulierung mit Anselms ursprünglichem Argument verwechsle (19). Auch wenn diese Einwände gegen die Interpretation als ontologischer Gottesbeweis für sich genommen nicht neu sind, ist die so begründete Kritik plausibel, dass die Klassifizierung von An­selms Argumentation im Proslogion als ontologischer Gottesbeweis a priori nicht zwingend ist, sondern dass alternative Deutungen möglich und möglicherweise zutreffender sein können.
Als Alternative zur kritisierten Deutung von Anselms Argument als apriorischem, »ontologischen Gottesbeweis« begründet C. detailliert eine Reinterpretation als neue Form des »kosmologischen Beweises«. Diese Klassifizierung ist allerdings insofern missverständlich, als er »kosmologisch« nicht in einem kausalen Sinne versteht wie Kant (37.41 ff.). Auch die Präzisierung als »einzigartige Version des kosmologischen Arguments« [43] wirft neue Fragen auf. Meines Erachtens changiert der Anspruch zwischen dem An­liegen einer textnahen analytischen Reinterpretation und hermeneutischen Reklassifikation der ursprünglichen Anselmschen Ar­gumentation in Proslogion 2–3 (8–14) und dem Anliegen der Entwicklung eines eigenen anselmianisch geprägten aposteriorischen Arguments für die Existenz Gottes, das deduktiv gültig ist (55).
Die alternative Rekonstruktion von Proslogion 2–3 wird – ähnlich wie bereits in »Rethinking Anselm’s Arguments« – unter Einbeziehung von Anselms Antwort auf Gaunilos Einwände als dreischrittiges Argument analysiert (37–108). Dabei werden im Detail Denkregeln, logische Prinzipien, Schlussregeln, Begriffe und Argumentationsstrategien untersucht.
Grundlegend für C.s alternative Rekonstruktion in Kapitel 2–3 ist im ersten Schritt der Argumentation in Proslogion 2 die Deutung der Nennung Gottes als »etwas, worüber hinaus größeres nicht gedacht werden kann« als Denkregel, d. h. als »unbestimmte Be­schreibung« statt als Definition eines Gottesbegriffs (65–74). Ebenso grundlegend ist die Relativierung des sogenannten »Empiristischen Prinzips«, wonach es unmöglich sei, vom Sein im Denken auf das Sein in Wirklichkeit zu schließen (39). Für die Rekonstruktion des zweiten Schritts der Argumentation ist die Annahme eines qualitativen, graduellen Existenzbegriffs maßgeblich, mit dem von zwei Prämissen aus deduktiv begründet und universalisiert wird, dass Gott nicht als möglicherweise auch nicht-existierend gedacht werden kann, sondern nur als notwendig existierend (vgl. Rethinking Anselm’s Arguments, 143–217.387–392). Für die Re­konstruktion des dritten Argumentationsschritts ist die Analyse eines theologischen, eines metaphysischen und eines Singularitäts-Arguments für die Identifikation von dem, »worüberhinaus größeres nicht gedacht werden« kann, mit dem als »Du« angere-deten einzigartigen Gott zentral (vgl. Rethinking Anselm’s Arguments, 218–280.393–398).
Die eigene weiterführende Formulierung eines anselmianischen kosmologischen Arguments in den Kapiteln 4–10 wird als Optimierung desselben verstanden (145–331). C.s eigener sogenannter kosmologischer Gottesbeweis zeichnet sich dadurch aus, dass in Anlehnung an Anselms Antwort auf Gaunilos Einwände als erste Prämisse angenommen wird: »Jedes beobachtbare Ding, das im Universum zu irgendeiner Zeit existiert, hat einen An­fang.« (109) Von dieser Prämisse aus und drei weiteren Prämissen wird geschlossen, dass »das, worüber hinaus größeres nicht ge­dacht werden kann« notwendigerweise immer in Wirklichkeit existiert, ohne mit einem der kontingent existierenden Dinge identisch zu sein. Schließlich wird begründet, dass aus diesen Prämissen sogar eine noch stärkere Konklusion abgeleitet werden kann, nämlich dass es notwendig ist, dass »das, worüber hinaus größeres nicht gedacht werden kann« unmöglich nicht-existiert (136–141).
Schließlich wird die Gültigkeit, Schlüssigkeit und die Kohärenz mit Einsichten moderner Kosmologie (145–331) begründet. So wird etwa auf Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie eingegangen und auf Georges Lemaîtres sogenannte Urknall-Hypothese und das Modell eines expandierenden Universums und weitere Einsichten moderner physikalischer Kosmologie (110–122) zur Frage, ob das Universum und alles, was darin exis-tiert, einen Anfang hat. So versucht C. mit seiner kosmologischen Reformulierung die Konklusionen der drei Schritte in Anselms ursprünglichem Argument zu begründen (332).
In einem dritten Schritt werden von C. schließlich meta-theoretische Fragen zu Interpretationskriterien des unum argumentum und zur Gegenwartsrelevanz diskutiert (332–452). Dabei werden zum einen andere Interpretationen des sogenannten unum argumentum etwa von Toivo Holopainen, Ian Logan und Bernd Goebel kritisch diskutiert (335–338). Auch die referenztheoretische Frage der Identikation der unbestimmten Beschreibung »das, worüber hinaus größeres nicht gedacht werden kann« mit dem trinitarischen Gott des christlichen Glaubens (374 ff.) wird erörtert. Hier wäre es interessant, auch die im Zusammenhang von Anselms Argumentationsstrategien in anderen Werken plausible Deutung zu diskutieren, dass Anselms sogenanntes unum argumentum im Proslogion die bescheidenere Form eines indirekten Beweises hat. Demnach würde durch die Widerlegung der Annahme des Toren, dass »das, worüber hinaus größeres nicht gedacht werden kann« nicht in Wirklichkeit existiert, auf schlichte und elegante Weise via negativa die gegenteilige Annahme begründet.
In C.s Reflexionen zur Gegenwartsrelevanz von Anselms metaphysischen Ansichten, etwa zu einem qualitativen, graduellen Existenzbegriff im Kontrast zum modernen Physikalismus, zu Anselms Verständnis von Vermögen, Verstehen und kontingentem und notwendigem Existieren, wird schließlich gezeigt, wie Anselms Argument für die Existenz Gottes angesichts von Kants berechtigter Kritik an Descartes’ ontologischem Gottesbeweis rehabilitiert werden kann (380–417). Diese beachtliche Leistung C.s findet ihren Abschluss in zusammenfassenden Gedanken. Dabei erwartet die Leserinnen und Leser ganz am Ende noch eine zentrale Pointe: Unter Rekurs auf Anselms Reflexionen zur Allgegenwart Gottes in Monologion XXII wird herausgestellt, dass es Anselm nicht nur um ein Argument für die Existenz Gottes geht, sondern darum zu zeigen, dass Gott als Grund alles Wirklichen und Möglichen notwendigerweise wirklich gegenwärtig ist (450–451). C. trägt somit nicht nur eine kosmologische Reformulierung von Anselms Argument für die Existenz Gottes bei. Vielmehr zeigt er daran exemplarisch die Herausforderungen einer Hermeneutik der logischen Rekonstruktion von Gottesbeweisen auf sowie die untrennbare Verbundenheit der Fragen nach der Existenz und Präsenz Gottes.