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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

719–721

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Durner, Florian, Kochs, Susanne, u. Katharina Bracht

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte Latein. 100 Schlüsseltexte von der Antike bis zur Gegenwart. Kommentiert u. übers. v. F. Durner u. S. Kochs, m. Einleitungen versehen v. K. Bracht.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XXI, 265 S. = utb, 5731. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783825257316.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Dieses Buch stellt sich mutig und selbstbewusst einem Problem, das in Teilen des Theologiebetriebs unserer Tage immer noch un­terschätzt oder gar ganz verdrängt wird: Es besteht ein erhebliches Spannungsfeld zwischen dem Anspruch evangelischer Theologie, Urteilsfähigkeit hinsichtlich der basalen Texte der christlichen Tradition zu fördern, was das Beherrschen des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen erfordert, und dem Umstand, dass eine ständig größer werdende Anzahl von Theologiestudentinnen und -studenten nicht einmal das Lateinische von der Schule her mitbringt, vom Griechischen und Hebräischen ganz zu schweigen. Für den Studiengang Diplom/Kirchliches Examen bedeutet das konkret, dass viele Studenten zu Beginn ihres Studiums nicht weniger als drei alte Sprachen erlernen müssen, um überhaupt studierfähig zu sein – eine hohe Hürde, die natürlich bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium eine Rolle spielt und die sicher einer der Faktoren für das stetig abnehmende Interesse am Theologiestudium ist. Man kann das alles beklagen. Man kann selbstmitleidsvoll die Ansicht vertreten, früher sei alles besser gewesen. Man kann aber auch engagiert Anstrengungen unternehmen, um Abhilfe zu schaffen. Diese Anstrengungen hat ein Autorenteam der Universität Jena nun auf sich genommen: Florian Durner, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät, Susanne Kochs, seit 2006 Dozentin für Latein und Griechisch, sowie Katharina Bracht, seit 2011 Professorin für Ältere Kirchengeschichte, haben ein aus der Praxis für die Praxis geschriebenes Studienbuch vorgelegt, das lateinische Sprachkompetenz anhand ausgewählter kirchen- und theologiegeschichtlicher Quellen vom 2. bis zum 21. Jh. einzuüben und zu stärken beabsichtigt. Ziel ist nach wie vor die Befähigung zu einem selbständigen Quellenstudium. Neu und begrüßenswert ist der Ansatz, dieses Ziel mittels konsequenter didaktischer Bodenhaftung zu erreichen.
Geboten werden 100 Auszüge aus relevanten lateinischsprachigen Quellentexten aus der Kirchen- und Theologiegeschichte. Jedem Text ist eine kurze, aber sehr konzise historische Einführung vorangestellt, die beim Einordnen der Quelle hilft und einen guten Horizont für ihr Verstehen bietet. Es folgen der Text selbst, der (oft durch Kürzungen und Auslassungen unterbrochen) gemäß den einschlägigen kritischen Editionen zitiert wird, sodann ein sprachlicher Kommentar mit Vokabelangaben und Hinweisen auf grammatische Phänomene, schließlich knappe Hinweise auf wichtige Sekundärliteratur, gedruckte Quellen und vorliegende deutschsprachige Übersetzungen. An den so gestalteten großen Block der 100 ausgewählten Texte schließt sich am Ende ein kleinerer Block an, der – den Auflösungen am Ende eines Rätselheftes vergleichbar – die Übersetzungen bietet, die die Verfasser des Bandes vorschlagen.
Die Auswahl der Texte unterlag natürlich der Qual der Wahl, ist aber insgesamt als sehr gelungen zu bezeichnen. Sie umfasst be­kannte und weniger bekannte Texte und berücksichtigt unterschiedliche literarische Gattungen. Sie stellt ein ausgewogenes Verhältnis von Texten zur Kirchen- und Texten zur Theologiegeschichte her. Sie bemüht sich um eine gleichgewichtige Repräsentation der traditionellen Epochen Alte Kirche, Mittelalter, Re­formationszeit, (Frühe) Neuzeit und Moderne und berührt dabei zugleich viele der klassischen Examensklausurthemen im Fach. Dabei werden immer wieder auch epochenübergreifende Verbindungslinien sichtbar. Durch all das werden der didaktische und der pragmatische Wert des Bandes erhöht. Freilich fällt auf, dass für das 19.–21. Jh. nur noch Texte aus der römischen Kurie vorkommen. Das ist dem Umstand geschuldet, dass in neuester Zeit nur hier noch lateinisch geschrieben wird, eine echte Auswahl also gar nicht mehr möglich war; freilich ergibt sich so für die letzten dreizehn (!) der ausgewählten Quellen eine eigentümliche konfessionelle und auch inhaltliche Schlagseite.
Auch beim sprachlichen Kommentar galt es abzuwägen. Die Herausgeber haben sich für eine recht reichhaltige Ausstattung des Apparats entschieden. Die Anzahl der Vokabelangaben, gramma-tischen Erklärungen und Übersetzungshinweise ist – angesichts der Kürze der Quellenauszüge – enorm hoch. Man kann fragen, ob weniger hier möglicherweise mehr gewesen wäre. Zwar führt die reichhaltige Ausstattung des Apparats positiverweise dazu, dass die Benutzer sich die Quelle sprachlich und inhaltlich schnell erschließen können. Aber in die sachgerechte Benutzung eines Wörter-buches oder einer Grammatik wird man so eher nicht eingeübt. Etwas problematisch erscheint es auch, dass für ein lateinisches Wort in aller Regel nur ein deutsches Äquivalent angegeben wird, was die Übersetzung doch sehr lenkt, und dass häufig nach kursivem Übersetze: für ganze Satzsequenzen ein Wiedergabevorschlag gemacht wird. Das »Knobeln« an einem Satz, das zu eigenständigem Übersetzen typischerweise dazugehört, wird den Benutzern so weitgehend erspart.
Das Buch bietet ein wohlüberlegtes internes Verweissystem und einen Index, der Querverbindungen zwischen den verschiedenen Quellenauszügen aufzufinden und zu erschließen hilft. Das ist für thematische Präsentationen im Seminar ebenso hilfreich wie für die Examensvorbereitung. Als »Bonus-Material« bietet der Band ferner einen 500 Wörter umfassenden, spezifisch theologischen Aufbauwortschatz, der als PDF oder als Excel-Datei zugänglich ist. Dieser Aufbauwortschatz dürfte sich auch bei der Arbeit an anderen als den 100 ausgewählten Quellentexten als überaus nützlich erweisen.
Die übersichtliche Gestaltung des Bandes sollte eigens positiv hervorgehoben werden. Ein Buch mit hohem pädagogischen An­spruch muss ein hohes Maß an Benutzerfreundlichkeit bieten. Genau das ist den Herausgebern in vorbildlicher Weise gelungen: Nach einer kurzen Einarbeitungszeit findet man sich in dem Band spielend zurecht. So erreicht die »Kirchengeschichte Latein« ihr Ziel, einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu lateinischen Primärquellen und damit zum Fach Kirchengeschichte insgesamt bereitzustellen. Für die große Mehrzahl der Theologiestudenten unserer Tage, die von Hause aus keine altphilologischen Fertigkeiten mitbringen, dürfte der Band nicht nur eine praktische Hilfe sein, sondern geradezu als eine Einladung verstanden werden, sich an eigenständigem Quellenstudium auch dann zu versuchen, wenn die Ausgangssprache zunächst eine beträchtliche Hürde darstellt. Dass sich auf diese Weise die Faszinationskraft des Quellenlesens in den Lehrveranstaltungen neu erschließt, ist Studierenden und Lehrenden der Theologie gleichermaßen zu wünschen. Auf dem Weg dorthin einen Beitrag geliefert zu haben, ist den Herausgebern und Verfassern der »Kirchengeschichte Latein« zu danken.