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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

715–717

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bolliger, Daniel

Titel/Untertitel:

Methodus als Lebensweg bei Johann Conrad Dannhauer. Existentialisierung der Dialektik in der lutherischen Orthodoxie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. IX, 710 S. m. 2 Abb. = Historia Hermeneutica. Series Studia, 15. Geb. EUR 157,95. ISBN 9783110465044.

Rezensent:

Markus Matthias

Der lutherisch-orthodoxe Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) gehört zu den profiliertesten deutschen Barocktheologen. Symmetrie des Antithetischen, emblematische Symbolik, Ästhetik der Wahrheit, Universalgelehrsamkeit und tiefe Frömmigkeit, alle diese Kennzeichen eines barocken Weltverhältnisses finden sich in Dannhauers umfangreichem schriftstellerischen Werk. Seine Bedeutung für die Entwicklung der Logik und (als deren Teil) der Rhetorik und der Hermeneutik im Rahmen des Neuaristotelismus ist bekannt. Der reformierte Theologe Daniel Bolliger (Landquart, Graubünden) hat es unternommen, die Konsistenz von Dannhauers wissenschaftlichem und erbaulichem Werk von der ihm ge­meinsamen Metapher des Weges ( methodus, Lebensweg) her darzustellen. Sein Buch hat beim Rezensenten einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen.
Die 2010 an der Universität Hamburg eingereichte Habilitationsschrift gliedert sich in sechs darstellende Kapitel (1–391), gefolgt von sehr umfangreichen Beigaben (393–702) und einem Personen-, Orts- und Sachregister (703–710).
Die Beigaben umfassen (a) eine synoptische Übersicht über die Paragraphen der drei »Wege-Schriften« und den »Liber Conscientiae« (394–407), (b) einige aus den Quellen übernommene Inhaltsverzeichnisse zentraler Werke Dannhauers (408–422), (c) Quellenauszüge zur Geschichte der Logik (423–501), (d) Katechismus-predigten anderer Autoren in Exzerpten (502–577) sowie eine Per­sonalbibliographie Dannhauers (577–655), die benutzte Quellenliteratur (655–681) und die Forschungsliteratur (681–702).
In einem ersten einleitenden Kapitel (1–25) skizziert der Vf. den Forschungsstand unter der leitenden Fragestellung des Verhältnisses von Lehre und Leben, konfessioneller Theologie und Frömmigkeit, wobei er zu Recht darauf hinweist, dass es nicht genügt, das Bild von der toten Orthodoxie für veraltet zu erklären, solange man es nicht schafft, den Zusammenhang von beiden oder ein umfassendes Theologieverständnis bei den Vertretern der Orthodoxie methodisch reflektiert darzustellen. Bei der Besprechung einschlägiger Forschungstrends und historiographischer Konzeptionen (unerwähnt bleibt mein Versuch über Aegidius Hunnius) hinterfragt der Vf. freilich nicht stark genug deren methodologische Vor aussetzungen und Grundbegriffe – Lehre, Leben, Theorie, Praxis etc. (1–8) – und vertritt selbst Scheingegensätze, z. B. zwischen allgemeingültiger Philosophie und konfessioneller Theologie. Dannhauer dient ihm als Ausnahme oder doch Muster einer Integration von abstrakter Wissenschaft und bibelorientierter Frömmigkeit, die faktisch metaphorologisch eingeholt werden soll.
Im zweiten Kapitel (26–134) wird Dannhauer philosophiegeschichtlich als dialektischer Philosoph vor allem anhand seiner Epitome dialectica von 1634 in die wissenschaftstheoretische Diskussionsgeschichte des Neuaristotelismus eingezeichnet. Die weitgehend formale Analyse läuft wenig überraschend darauf hinaus, dass Dannhauer die Logik als Instrumentaldisziplin zum Zwecke der apodiktischen Wahrheitsfindung gegenüber ihrer Einbindung in die humanistische Rhetorik schärft. Dabei erweist sich, dass Dannhauer teilhat an einer längeren Geschichte der Entwicklung der Logik in Straßburg (62–130). Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Dannhauers »Logik«, bei der es ihm offenbar um die drängende Frage nach der Wissenschaftlichkeit und Wahrheit der Theologie geht, unterbleibt leider.
Im dritten Kapitel (135–187) wird Dannhauer als Theologe anhand seiner Polemosophia seu Dialectica sacra von 1648 (und der Idea boni disputatoris von 1629) vorgestellt, die die Logik auf die auf der Heiligen Schrift als Prinzip aufbauende Materialwissenschaft der Theologie anwendet (138). Die genaue Beschreibung der Leis-tung und Grenzen logischer Argumentation für die Analyse von Sachverhalten oder Texten sowie für die durch bindende Schlussfolgerung mögliche Erweiterung des Wissensbestandes ist das Thema der »heiligen Dialektik«. Das gilt in der Theologie vor allem dann, wenn theologische Aussagen getroffen werden sollen oder müssen, die so nicht explizit in der als Erkenntnisprinzip anerkannten Heiligen Schrift stehen, aber wohl der Sache nach in ihr enthalten sein müssen (Trinitätslehre). Der Vf. entwickelt Dannhauers Positionen weitgehend nur durch ein etwas sprunghaftes Referat der Polemosophia, das nur ansatzweise in den historischen Diskurs eingebettet wird (Walenburch-Kontroverse). Ihre Kriegs-Metaphorik hätte freilich Anlass zur Reflexion über das Verhältnis von einfältigem Glauben und notwendiger Wissenschaft zur Bestreitung des Irrglaubens geben müssen.
Das vierte Kapitel (188–241) stellt vor allem die drei »Wegeschriften«, die thetische Hodosophia (Weg-Weisheit) der lutherischen und die zwei polemischen Hodomorien (Weg-Torheiten) der römischen und calvinistischen Religion in ihrem Aufbau vor, ohne auf sachtheologische Fragen einzugehen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die zentralen Metaphern dieser Schriften, die als Klammern die professionelle Theologie, (miss-)verstanden als objektive Lehre, mit ihren kulturellen Kontexten und der Frömmigkeit der »Laien« zusammenhalten sollen.
Das fünfte Kapitel (242–371) gilt endlich dem, was der Vf. die theologische Praxis nennt, nämlich vor allem der katechetisch-homiletischen Betätigung Dannhauers oder der Vermittlung seiner akademischen Theologie in die kirchliche Gemeinschaft hinein. Der Vf. fragt nach den Implikationen der Metaphern, die Dannhauer für die Vermittlung katechetischen Wissens in seiner »Katechismusmilch« (1642–1673) benutzte, sieht dessen akademisches und kirchlich-praktisches Werk auch werkgeschichtlich über diese Metaphern, gleichsam als eigene Wirklichkeit, miteinander verschränkt, womit zugleich deutlich werden soll, dass sich beide im Blick auf ihren Gegenstand nicht der Sache nach, sondern nur graduell unterscheiden. In der homiletischen Situation komme aber noch als besonderes Element dasjenige der individuellen Entscheidung des Hörers hinzu. Dieses Ergebnis ist freilich in seinen falschen Voraussetzungen entsprechend Theodor Mahlmanns grundlegendem, hier fehlenden Artikel über den Theologiebegriff in der Hochorthodoxie (Doctrina im Verständnis nachreformatorischer lutherischer Theo logen, in: Vera Doctrina. Zur Begriffsgeschichte der Lehre von Augustinus bis Descartes, Wiesbaden 2009, 199–264, zu Dannhauer 256–258) zu korrigieren.
Der Vf. hat sich in beeindruckender Weise in seine Quellen eingearbeitet, manches wertvolle und interessante Material aus gedruckten Quellen herbeigeschafft, ihre Auswahl bleibt aber zufällig wie die Rezeption der Forschungsliteratur sachlich und formal rudimentär. Der Darstellung mit mancherlei wohlklingenden Fremdwörtern, einer Freude an Kompositabildung und »sozusagen«-Assoziationen ist die Freude des Vf.s an der geistreichen, dialektisch anmutenden oder metatheoretischen Formulierung anzumerken. Dem steht gegenüber, dass er wenig Anstalten unternimmt, die Bedeutung des Analysierten auf den Begriff zu bringen und in seiner Konsequenz aufzuzeigen. Die Anmerkungen enthalten zum Teil lange Auszüge, ohne dass ihnen im Text wirklich pointierte, zu beweisende Thesen vorausgehen oder dass auf diese Texte ein wirklich analytischer Zugriff erfolgte. Eine ganze Reihe von Druck- oder Satzfehlern wäre vermeidbar gewesen. Manche historische Begriffe sind schlicht falsch ( theologia ektypa, 194) oder ungenau (Katechismus, 308 unten) gebraucht und führen so zu einer wenig überzeugenden Argumentation. (Begriffe wie »existentiell« – schon im Titel– für »lebensnotwendig« oder »heilsnotwendig« sollten in einer philosophischen Argumentation vermieden werden.) Manche rätselhafte Überlegung erweist sich schlicht als Übersetzungsfehler (41, mit Anm. 44). Auch die Logik des Textes lässt mitunter zu wünschen übrig (148, »In der Theologie nun nimmt die Schrift die Stelle eines Prinzips ein. Deswegen ist ihr Sinn zu ergründen, der nur einer sein kann, weil nur ein sicheres, in sich kohärentes principium Ausgangspunkt für eine schlusskräftige theologische Arbeit sein kann.«).
In der Werkbibliographie fehlen der Sammelband von Dannhauers sonst z. T. nicht erhaltenen Disputationen (Misler, Disputationes 1707), die Idea Boni Disputatoris, 1674, die Idea Boni Interpretis, 1648, De Voto Iephthaeo, 1711, verschiedene Trauerprogramme (nachgewiesen bei Betz, Répertoire bibliographique des livres imprimés en France au XVIIe siècle. T. 7, 1984), verschiedene Universitätsprogramme (1635, 1641, 1659), Mysteriosophia 1664, Disputationem Theologicam De Gemitu Creaturarum 1646 [nur bei 1684], Theologiae Conscientiariae Partis Secvndae Specialis [nicht schon 1659], Dissertatio De Probatione Spirituum 1661 [nur bei 1662], Pronöemata De Sorte, 1664 [BSB; nicht 1663]; Hagiologium festale 1677, Davids tröstlicher Schwanengesang 1696, Politica biblica 1701, Theologia Casvalis, 1706.