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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

711–713

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Witt, Christian Volkmar

Titel/Untertitel:

Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIV, 347 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 95. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161547676.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Die vorliegende Studie von Christian Volkmar Witt bietet einen innovativen Zugriff auf ein Element der Theologie Luthers, an dem sich zeigen lässt, wie sich die theologische Entwicklung des Reformators konkret im Spannungsfeld von »augustinisch-mittelalterlicher« Prägung und »Reformation« ausgestaltet. Damit kann sie einen unaufgeregten Beitrag zu dieser immer neu zu führenden Forschungsdiskussion leisten.
Die methodische Herausforderung besteht in der Fülle möglicher Quellen und Forschungsbeiträge, die berücksichtigt werden könnten. Die Perspektive auf Augustin, das Mittelalter und Luther spannt ein breites Panorama, das sich nur schwer bündeln lässt. Der Umgang mit dieser Herausforderung prägt Forschungsdesign und Aufbau der Studie.
Luthers Erwähnung der Ehe in der Freiheitsschrift bietet den Anlass zu tieferer Erforschung: »Hier ist eine Nähe zwischen Luthers Eheverständnis und seiner Rechtfertigungslehre als Epiphänomen seiner schöpferischen Neubestimmung des Verhält-nisses von Gott und Mensch – als Epiphänomen seines originellen Christentumsverständnisses also – greifbar, der es theologiegeschichtlich auf die Spur zu kommen gilt.« (2) Diesem Entdeckungsinteresse geht die Studie in wechselnden Perspektiven nach.
Die Studie versteht sich als »multidisziplinär« (2) bzw. »interdisziplinär« (3), sei jedoch eine »ihrem Selbstverständnis und dem Zugriff auf ihr Thema nach eine kultur- und theologiegeschichtliche Studie« (6). Sie setzt an bei R. Seeberg, W. Elert und P. Althaus, »über deren Einsichten und Feststellungen letztlich keine auf sie folgende schwerpunktmäßig theologiegeschichtlich interessierte Studie gleich welchen Umfangs hinaus gekommen ist« (6). Während sich diese auf die Wirkungen konzentrierten, möchte W. auf die potentiellen theologiegeschichtlichen Wurzeln schauen. Zu­dem projektiert er einen theologiegeschichtlichen Blick auf die Ehetheologie Luthers im Verhältnis zu deren augustinisch-mittelalterlichen ehetheologischen Vorläufern, inklusive einer Analyse der Beschäftigung mit der Ehe von ihren Anfängen bis in die letzten Schaffensjahre des Reformators.
Kreativ wird das im Aufbau der Arbeit abgebildet: Kapitel 1 widmet sich dem Sermon Vom ehelichen Leben (1522), der die erste um­fassende Darlegung des theologischen Eheverständnisses Luthers biete. Hier werden die ehetheologischen Grundpfeiler ausgemacht. Mit diesem Raster schaut Kapitel 2 auf Augustins Eheverständnis und damit den »unstrittig wirkmächtigsten Theologen des christlichen Abendlandes« (8). Den ehetheologischen Bildungshorizont des Spätmittelalters erhebt W. anhand einschlägiger Handbuchliteratur, die auch Luther wahrscheinlich benutzt habe (8) (Kapitel 3). Wieder bei Luther angekommen, gliedert sich die Untersuchung in die Zeiträume 1519–1522 (Kapitel 4) und 1523–1531 (Kapitel 5), bevor dann anhand der Genesisvorlesung eine Bündelung und Zusammenfassung unternommen wird (Kapitel 6). Ein gesondertes Ergebniskapitel existiert nicht. Dieser Aufbau ist recht kunstvoll und verlangt vom Leser einige Sprünge. Der kreative Umgang mit den heterogenen Quellen kann methodisch sicher diskutiert werden. Viel Raum wird auf die Erläuterung und Rechtfertigung der Auswahl und des Vorgehens verwendet. In den einzelnen Kapiteln steht eine (fokussierte) Quellenanalyse der Zusammenführung voran. Dass in der Quellenauswahl nicht jede Belegstelle des Wortes »Ehe« berücksichtigt wurde, liegt nahe, die »strengen thematischen Leitlinien«, die die Quellenauswahl vorgeben (10), schränken die Perspektive aber deutlich ein. Es stellt sich die Frage, ob nicht in dem Versuch, einen möglichst präzisen Behandlungsgegenstand zu finden, we­sentliche Beobachtungschancen vergeben wurden.
Die Forschungsliteratur taucht in den Fußnoten eher konzentriert auf, weite Teile der Studie kommen ohne Forschungsdiskussion aus. In der Zitation wurde durchgängig auf Zeilenangaben in der WA verzichtet. Ergänzend sind Register zu Bibelstellen und Personen beigegeben. Ein Sachregister gibt es nicht.
Im Kapitel 1 findet W. im Sermon »Vom ehelichen Leben« »Luthers rechtfertigungstheologische Grundeinsichten, die in seine Lehre von Gesetz und Evangelium münden« (14). Aus dem Sermon wird ein Raster entwickelt, an dem sich die Untersuchung der folgenden Kapitel orientiert.
Nach dieser Grundlegung widmet sich Kapitel 2 dem theologischen Eheverständnis Augustins in einer Auswahl von Quellen unter einer »eigenen, von anderen Darstellungen abweichenden Gliederungssystematik« (36). Luther übernimmt Systematik und Argumentationslinien von Augustin, zieht aber an entscheidenden Punkten gänzlich andere theologische Konsequenzen (66). Wo vollzog sich der Bruch? Dazu untersucht Kapitel 3 die mittelalterliche Rezeption der Ehetheologie Augustins durch das Kirchenrecht und die Sentenzenkommentare. Hier wendet sich W. den Kompilatoren des CIC zu, mit dem »Ziel, soweit möglich das theologische Eheverständnis des mittelalterlichen Kirchenrechts herauszuarbeiten« (69). Zu den Kommentatoren des Sentenzenwerks, die andere Ak­zente setzen, aber insgesamt den ehetheologischen Rahmen des Petrus Lombardus nicht sprengen, kommt Johann Altenstaigs Vocabularis-Theologie hinzu. Die Frage ist: »Welche ehetheologischen Denker prägen die spätmittelalterliche Bildungslandschaft, an der der Augustiner-Eremit Martin Luther partizipierte?« (155) Letztlich bleibt »die Ehekonzeption Augustins, die noch den angeführten Autoren spätmittelalterlicher Handbuchliteratur vermittelt die gedanklichen Leitlinien vorgibt« (169).
Kapitel 4 geht zurück zu Luther: Luthers theologisches Eheverständnis bis 1522 vor dem Hintergrund des ehetheologischen Bildungshorizonts des Spätmittelalters (172 ff.). Als Quellen werden behandelt: Von dem ehelichen Stand 1519, De captivitate, Von den guten Werken, An den christlichen Adel, Themate de Votis und De votis monasticis iudicium. Dass Luther an verschiedenen Stellen auf die Ehe eingeht, belege: »Sein Eheverständnis ist somit direkt an die Genese seiner reformatorischen Grundeinsichten und an deren theologische Vertiefung gekoppelt, bevor er es systematisierend reflektiert und mit dem Ergebnis dieses Reflexionsprozesses 1522 an die Öffentlichkeit tritt.« (215 f.)
Kapitel 5 erweitert stichprobenartig die Untersuchung Luthers bis 1531. Das Eheverständnis wird weiter profiliert und vertieft, aber nicht mehr grundsätzlich verändert (248). Dass im Kapitel 6 als abschließende Bündelung Luthers Genesisvorlesung als eine ganz andersartige Quelle herangezogen wird, ist überraschend. Zuletzt findet sich eine abschließende Bündelung, in der die vier Grundpfeiler der Ehetheologie Luthers »der schöpfungstheologischen Verankerung des ehelichen Standes, der mit seiner Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch verwobenen Zielbestimmung des ehelichen Miteinanders der Geschlechter, der rechtfertigungstheologisch fundierten Überordnung der Ehe über das monastisch-zölibatäre Leben und schließlich der Auflösbarkeit der ehelichen Gemeinschaft zugunsten wahrhaft gottgefälliger Verbindungen« (320) aufgeführt werden.
Die Studie zeigt deutlich, wie herausfordernd es ist, ein Thema im Querschnitt durch die Jahrhunderte zu behandeln und gleichzeitig dessen Stellung im theologischen System eines bestimmten Vertreters zu bestimmen. W. hat dazu kreativ Zugänge erschlossen und eine Systematik entwickelt. Leider geht dieses schematische Vorgehen zuweilen auf Kosten der zu Rate gezogenen Quellen. Impulse, über die Stellung der Ehetheologie Luthers weiter nachzudenken, sind der Forschung mit dieser Studie jedenfalls aufge-geben.