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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

703–705

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Domtera-Schleichardt, Christiane

Titel/Untertitel:

Die Wittenberger »Scripta publice proposita« (1540–1569). Universitätsbekanntmachungen im Umfeld des späten Melanchthon.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. XII, 755 S. m. Abb. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 39. Geb. EUR 88,00. ISBN 9783374066841.

Rezensent:

Johannes Schilling

Dieser voluminöse Band von Christiane Domtera-Schleichardt ist die bisher umfangreichste Monographie innerhalb der Reihe der Leucorea-Studien. Kein Wunder – die Arbeit erschließt erstmals einen für die Theologie- und Kirchen- sowie für die Universi-tätsgeschichte gleichermaßen interessanten Quellenbestand: die »Scripta publice proposita« (SPP), die die Universität Wittenberg zwischen 1540 und 1569 (1572) in zunächst vier und dann noch einmal sieben umfangreichen Bänden herausgab, amtliche Verlautbarungen der Leucorea zu den verschiedensten Angelegenheiten und Fragen der Zeit. Das Buch ist eine Fundgrube für die Geschichte der Universität, ihrer Lehrer und ihrer Studenten, für die Entwicklung der reformatorischen Theologie in diesen Jahrzehnten und für den späten Melanchthon. Allein die Anfertigung der Kataloge ist eine ebenso bewunderns- wie dankenswerte Arbeit; es ist nicht nur angenehmer, sie in gedruckter als in digitaler Fassung zu studieren, sondern wahrscheinlich auch erkenntnisfördernder. Aber damit allein ist es nicht getan.
Die Dissertation, die 2018 in Leipzig eingereicht wurde, besteht, nach einer Einleitung, aus zwei großen Teilen, einem Untersuchungs- und eben dem Katalogteil. Dieser umfasst die Seiten 261–663 und macht damit einen Großteil des Buches aus. Am Ende folgen Quellen- und Literaturverzeichnis, Personen- und Ortsregister sowie ein Abbildungs- und ein Abkürzungsverzeichnis.
Dem Katalog voraus gehen die Untersuchungen. Sie teilen sich in fünf Kapitel, die jeweils mit einer »Zwischenbilanz« beschlossen werden, in der die Ergebnisse gebündelt dargestellt sind. Schnellleser können hier mühelos auf ihre Kosten kommen, allerdings wird ihnen dabei vieles entgehen. Kapitel 1 behandelt »Wittenberger Universitätsbekanntmachungen im 16. Jahrhundert« (19–82). Es geht zunächst um Begrifflichkeit und Begriffsgeschichte dieser Textsorte, sodann um die Überlieferungs- und Forschungsgeschichte dieser »Anschläge am ›Schwarzen Brett‹« (17) der Universität und um ihre Druckgeschichte. In Anlehnung an die Wittenberger »Cranachwerkstatt« spricht die Vfn. – wie ich finde, passend – von einer »Melanchthonwerkstatt«, deren Haupt Melanchthon war, an der aber zahlreiche seiner Schüler mitwirkten. Mit den SPP sammelte die Universität ihre Kleinüberlieferung, die der akademischen Selbstvergewisserung, Netzwerkbildung und Freundschaftspflege diente, gedachte aber auch, »sich hinsichtlich der Wahrung von Disziplin und reiner Lehre als vorbildliche Institution zu präsentieren« (81).
Kapitel 2 thematisiert »Druckgeschichte, Herausgeber und In­tentionen« (83–123). Die Vfn. unterscheidet zwei Generationen der SPP, eine erste von vier und eine zweite von sieben Bänden; ein achter Band kam nach dem Tode des Redaktors Michael Maius und der veränderten konfessionellen Situation nach 1572 nicht mehr zu­stande (Übersicht, 85). Einige der Bände erlebten Nachauflagen. Sie dienten als »Medium der akademischen Repräsentation, des Gelehrtenaustauschs und der Freundschaftspflege« (123).
In Kapitel 3 geht es um die »Textsorten« (124–189), nach einer allgemeinen Charakteristik um Rektoratsmandate, Funeralschrifttum, Vorlesungsankündigungen, Festprogramme, Einladungen zu Examina und akademischen Feiern, Bekanntmachungen zum Almosengeben und karitativen Handeln, astronomisch-astrologische Bekanntmachungen, Gedichte und Reden. Aus dem disparaten Material gewinnt man Einblicke in die Mentalität der Zeit und in die Alltagskultur in Wittenberg; das Funeralschrifttum, das »mehr als ein Viertel der über 2000 überlieferten Texte« (190) um­fasst, ist dabei besonders aussagekräftig.
Kapitel 4 versammelt unter dem Titel »Memoria, Autorität und Identität« (190–224) Ausführungen zu Schlüsselereignissen der Wittenberger Universitäts- und Reformationsgeschichte, zu Stadt und Universität Wittenberg als Geburtsstätte und Zentrum der Reformation, und es entwirft »Konturen einer Melanchthon-Me­moria« (201–223), die nach dessen Tod »an Intensität und Stetigkeit« (206) gewann und, ähnlich wie bei Luther, zu »Monumentalisierung und Memorialisierung« (223) führte.
Das abschließende Kapitel 5 untersucht »Theologische Kontroversen, konfessionelle Abgrenzung und Polemik« (225–256). Hier geht es um Polemik gegen den Islam, der als christliche Häresie wahrgenommen wird, um solche gegen die römische Kirche, ihre Lehren und ihre Amtsträger, um die Abgrenzung vom »reformatorischen Dissent« und um innerlutherische Streitigkeiten. Die Universität brachte hier ihren »Absolutheitsanspruch« zur Geltung »und gerierte sich als Wächterin, Interpretin und zuverlässige Vermittlerin der reinen Lehre« (255). Eine knappe, aber sehr gehaltvolle Zusammenfassung (257–261) mit einem kraftvollen Plädoyer für die weitere Erforschung dieses Schrifttums beschließt die Untersuchungen.
Der Katalogteil schlüsselt die sieben Bände der zweiten Generation der SPP im Einzelnen auf. Katalog 1 (265–619) enthält ein chronologisches Verzeichnis der gedruckten Bände sowie ein Verzeichnis nach Autoren und eines nach Textsorten. Allein Letzteres beweist, dass die Vfn. die Texte zur Kenntnis genommen und nicht nur verzeichnet, sondern auch verstanden hat. Katalog 2 (620–661) bietet ein chronologisches Verzeichnis sowie ein solches nach Autoren von ergänzenden Scripta aus handschriftlicher und gedruckter Überlieferung. Das differenzierte Quellen- und Literaturverzeichnis (663–712) lässt ermessen, dass die Vfn. nicht nur die Quellen, sondern auch die wissenschaftliche Literatur in ihrer Breite wahrgenommen und verarbeitet hat. Und das Register ist ebenso um­sichtig gestaltet wie das ganze Werk.
Unter den Zigtausenden von Blattangaben, Signaturen und Jahreszahlen habe ich spontan nur zwei kleine Versehen gefunden: 26 Anm. 76 lies: Res. 4o H. ref. 800 (18; 28 Anm. 88 lies 4o Az 18401. – Luthers »Epigramma« »De fonte Oreadum VVitebergensium« (421 Nr. 5.126) könnte bei den Lesern vielleicht Interesse erwecken; ich notiere daher, dass sich der Text des Gedichtes in WA 35, 605 f. Nr. 4 findet.
Mit ihrer Doktorarbeit hat sich die Vfn. als kompetente Forscherin im Bereich der Reformationsgeschichte ausgewiesen. Ihre Arbeit besticht durch ihre Bewältigung der Materialfülle ebenso wie durch deren sinnvolle Organisation und Verarbeitung und durch ihre Präzision; die überaus zahlreichen lateinischen Zitate lassen eine souveräne Kenntnis dieser Sprache – inzwischen eine Rarität in unserem Fach – erkennen. Die Ausführungen sind me­thodisch transparent, inhaltlich plausibel, sprachlich schnörkellos und sehr lesbar.
Die Wege, die sie gebahnt, und die Verbindungen, die sie in ihrem Werk geknüpft hat, scheinen mir freilich länger und zahlreicher, als dass man ihnen in einem einzigen Forscherleben nachgehen oder sie verfolgen könnte. Aber vielleicht kann sie selbst irgendwann den einen oder anderen Faden aufnehmen. Das daraus entstandene Gewand könnte durchaus ansehnlich werden.