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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

689–691

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens, Edsall, Benjamin A., and Joseph Verheyden [Eds.]

Titel/Untertitel:

Jews and Christians – Parting Ways in the First Two Centuries CE?Reflections on the Gains and Losses of a Model.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VI, 409 S. m. 2 Abb. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 253. Geb. EUR 102,95. ISBN 9783110742138.

Rezensent:

Stefan Krauter

Über die Beschreibung der Prozesse in der Religionsgeschichte der ersten drei Jahrhunderte, die dazu geführt haben, dass seit der Spätantike »Christentum« und »Judentum« als zwei verschiedene Religionen nebeneinander stehen, wird seit Jahrzehnten eine intensive Forschungsdebatte geführt. Deren Spannbreite lässt sich anhand der allesamt mit Wegmetaphern arbeitenden Buchtitel »The partings of the ways« (J. D. G. Dunn), »The ways that never parted« (hgg. v. A. H. Becker u. a.), »The ways that often parted« (hgg. v. L. Baron u. a.) und »Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen« (U. Schnelle) ermessen. Die zwölf Beiträge des Bandes – von elf Autoren und einer Autorin – nehmen diese Debatte auf und versuchen sie weiterzuführen. Allen gemeinsam ist dabei ein reflektierter und kritischer Umgang mit Modellen und vor allem mit deren Benennung durch eingängige Metaphern und ein Bemühen um differenzierte Beschreibung.
Das beginnt mit Christoph Markschies’ einleitendem Aufsatz, der eindrücklich die (kirchen-)politischen und wissenschaftstheoretischen Implikationen der verschiedenen Wegmetaphern beleuchtet. Anhand einer Betrachtung der Adversus Iudaeos-Predigten des Johannes Chrysostomos kommt er zum Schluss, dass Aussagen über getrennte oder auch nicht getrennte Wege von Juden und Christen eher mit der Konstruktion christlicher und jüdischer Identität als mit der zutreffenden Beschreibung sozialer Verhältnisse und religionsgeschichtlicher Prozesse zu tun haben.
Auch Anders Runesson beginnt seinen Beitrag mit einer sehr skeptischen Beurteilung der Angemessenheit von Wegmetaphern und überhaupt der Verbindung von theologischen Diskursen, die der Selbstklärung der heutigen Identität von religiösen Gruppen dienen, und wissenschaftlichen Beschreibungen religiöser Prozesse in der Antike. Er unterscheidet sodann scharf zwischen associations (»Vereinen«) und public assemblies. Das, woraus später die Kirche wurde, waren ursprünglich »non-Jewish Christ associations«, die mit »Jewish associations« in der Diaspora interagierten und sich auseinandersetzten. Das heutige Judentum sei jedoch entstanden aus dem wachsenden Einfluss von »rabbinic associations« auf »public assemblies« im Land Israel. Das heißt: Trotz der im wei-testen Sinne gemeinsamen Herkunft habe es von Beginn an keine institutionelle Überschneidung und daher eigentlich auch keine Trennung gegeben.
Einen wichtigen Aspekt bringt der Aufsatz von Jan Bremmer ein, der die antike Begriffsgeschichte von iudaismos und christianismos analysiert. Er kann zeigen, dass es sich um Termini handelt, die im Gegenüber zu anderen bzw. zueinander zunächst eine be­stimmte Verhaltensweise bezeichnen und erst allmählich zu statischen Bezeichnungen von Gruppen werden. Damit leistet er auch einen Beitrag zu der komplexen Debatte über die Angemessenheit von Lexemen wie »Juden« oder »Judäer«, »Christen« oder »Christusanhänger« etc. in der heutigen wissenschaftlichen Beschreibungssprache, die in mehreren Beiträgen des Bandes eine Rolle spielt.
Die nächsten Beiträge widmen sich jeweils einer neutestamentlichen Schrift bzw. Schriftengruppe. Jens Schröter diskutiert in in­tensiver Auseinandersetzung mit dem »Paul within Judaism«-Modell die Position des Paulus. Seines Erachtens unterscheidet Paulus, wenn er die Umstände und die Konsequenzen einer Hinwendung zur Christusanhängerschaft beschreibt, klar zwischen Juden und Nichtjuden und geht von bleibenden Unterschieden aus. Was später eine Konversion von »Judentum« zu »Christentum« ist, liegt völlig außerhalb seiner Vorstellung. Dennoch entwickelt er zugleich ein neues und eigenes Selbstverständnis der Christusgläubigen gegenüber Nichtjuden und Juden. D. h. ob er »within Judaism« ist und, falls ja, wo er innerhalb des Judentums zu verorten ist, muss man je nach Perspektive unterschiedlich beschreiben.
Ähnlich versucht Matthias Konradt, die Debatte »intra muros« versus »extra muros« für Matthäus hinter sich zu lassen. Überzeugend zeigt er, dass man mit solchen binären Modellen die soziale Verfasstheit der matthäischen Gemeinden, ihre Beziehung zu anderen Gruppen von Christusgläubigen und ihr Selbstbild hinsichtlich Juden und Nichtjuden nicht adäquat erfassen kann.
Kylie Crabbe widmet sich der komplexen Fragestellung nach der Beziehung zwischen »Juden« und »Christen« in der Apostelgeschichte. Sehr hilfreich analysiert sie die Verflechtung dieser Frage mit derjenigen nach der literarischen Gattung der Apg und nach deren Zuverlässigkeit als historische Quelle. Sie arbeitet heraus, dass viele Figuren in der Apg »hybride« Identitäten haben und dass sich im Plot mehrfach ihre Wege trennen – doch damit keineswegs die Wege von »Christentum« und »Judentum«.
Jörg Frey fasst in seinem Beitrag seine andernorts ausführlich und überzeugend begründete Kritik an dem Modell von J. L. Martyn zu Geschichte und Theologie der johanneischen Gemeinde zusammen. In Auseinandersetzung mit A. Reinhartz stellt er fest, dass Johannes zwar in seinem theologischen Denken ganz und gar jüdisch geprägt ist, doch zugleich eine Identität der Christusgläubigen konstruiert, die auf deutlicher Abgrenzung von Ioudaioi basiert. Über Reinhartz hinaus macht er dies nicht nur an der Rhetorik des Evangeliums, sondern auch an historischen, sozialen Prozessen fest, vor allem an der Einführung des fiscus Iudaicus. Das Ineinander von »jüdisch« und »antijüdisch« sei – gerade auch angesichts der fatalen Wirkungsgeschichte der Texte – ehrlich und kritisch zu benennen.
Vier weitere Beiträge analysieren beispielhaft frühe nicht kanonische gewordene Texte (James Carleton Paget: Barnabasbrief, Benjamin A. Edsall: Iustins Dialog mit Trypho) und Regionen (Paul R. Trebilco: Kleinasien, Joseph Verheyden: Rom – allerdings befasst sich der längste Teil des Aufsatzes nochmals mit Iustins dialogus; Tobias Nicklas: Alexandria). Auch hier herrschen Skepsis gegenüber großen Modellen und der Trend zu Differenzierung vor. Insbesondere Nicklas möchte die globale Frage nach dem Trennungspunkt durch Fragen nach der Herausbildung und Institutiona-lisierung von Gruppen, Sozialkontakten zwischen Gruppen und zwischen Individuen, Konstruktion von Identitäten auf einer ideologischen Ebene und Wahrnehmung von Außenstehenden ersetzen.
Insgesamt bringt der Band die Debatte an entscheidenden Punkten weiter. Etwas schade ist es, wenn Beiträge wie aneinander vorbei geschrieben scheinen, etwa wenn Runesson über Johannes schreibt, als ob es den Beitrag von Frey im selben Band nicht gäbe, oder Schröter über iudaismos und christianismos ohne Verweis auf Bremmer und Trebilco über Iustin ohne Bezug zu Edsall und Verheyden. Doch das ändert nichts daran, dass alle Beiträge auf ihre Art (zu) einfache Modelle und Metaphern hinterfragen, das kaum auflösbare Ineinander von heutigen Anliegen und Wahrnehmung der antiken Prozesse analysieren und die Unterschiedlichkeit und Komplexität der jeweils einzelnen Phänomene herausarbeiten.