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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

687–689

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Röthlisberger, Daniel

Titel/Untertitel:

Hilfe und Selbsthilfe für verfolgte Christen. Eine Studie zum neutestamentlichen Ethos.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 594 S. Geb. EUR 45,00. ISBN 9783374067640.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Diese im Jahr 2017 an der Universität Dortmund angenommene Dissertation von Daniel Röthlisberger bearbeitet eine »in exegetisch-theologischer Hinsicht bestehende Forschungslücke zur in­nerchristlichen Hilfe und Selbsthilfe in Verfolgung« (16). Der sprachlich unpassende Einbezug der Selbsthilfe für verfolgte Christen soll dem Umstand Rechnung tragen, »dass Direktbetroffene auch selber zur Bewältigung ihrer Krisensituation aktiv werden können« (24). Der Untertitel zeigt an, dass das Ethos, also die in den Texten zum Ausdruck kommenden Moralvorstellungen, erhoben werden soll. Die forschungsleitenden Fragen sind: Welche elementaren Formen der Hilfe in Verfolgung begegnen im Neuen Testament und wie gestalten sich die Bedingungen der Hilfestellung. Hierbei wird das altkirchliche Schrifttum kursorisch mit einbezogen. Be­züge zu aktuellen Handlungsfeldern werden aus methodischen Gründen ausgeschlossen. Immerhin kommen mehr als 400 Belegstellen innerhalb des Neuen Testaments in Blick, die für das Thema Hilfe in Verfolgung relevant sind. Diese werden in sieben Kategorien bearbeitet, insofern sie von Hilfe a) in Bitt- und Klagegebet sprechen, b) Evangeliumsverkündigung und Konversion behandeln, c) den materiellen und psychischen Beistand thematisieren, d) Flucht und Verstecken sowie e) Apologien und Rechtsmittel darlegen, f) Gegengewalt und Gewaltverzicht zur Sprache bringen sowie abschließend g) über Bergung und Bestattung von Märtyrern sprechen. Die Dissertation, die nicht in einer Reihe, sondern als Einzelpublikation veröffentlicht wurde, ist sehr umsichtig angelegt und muss als wesentliche Hilfe für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema angesehen werden. In einem umfangreichen Anhang findet man eine Aufstellung zum semantischen und phänomenologischen Befund zu Verfolgung, Langzitate aus paganer Quelle und frühchristlichen Quellen, Lemmasuche und Wortfeldstudien sowie etliche Tabellen. Insgesamt 2744 Fußnoten sowie die abschließende Bibliographie mit 65 Seiten (darunter allerdings sehr viele Artikel aus Lexika) belegen die wirklich breite und gründliche Erfassung der wissenschaftlichen Literatur zum Thema. Hingegen ist das zweiseitige Stellenregister viel zu knapp und auch irreführend (Hebräerbrief unter den Paulinen aufgelistet), ein differenziertes Sachregister hingegen wäre bei diesem Thema wirklich hilfreich gewesen und wird schmerzlich vermisst. Der Gesamtertrag der Studie wird in einer deutschen Zusammenfassung und in einem Summary auf Englisch geboten. Darüber hinaus wird jeder Abschnitt zu den sieben Kategorien mit einem Ergebnis abgeschlossen.
R. bewegt sich in seiner Studie »innerhalb des historisch-kritischen Methodenkanons« (21), lässt also die Untersuchung von Fragen nach Kontext, Grammatik, Syntax und Pragmatik, aber auch nach soziokulturellem und historischem Hintergrund bestimmt sein. Wie sehr sein Vorgehen von der Wertschätzung des einzelnen biblischen Textes als auch vom klassischen Methodenkanon geprägt ist, kommt darin zum Ausdruck, dass eine eigene Übersetzung und alle einleitungswissenschaftlichen Fragen inklusive der Textkritik bei jedem behandelten Text ausführlich zur Sprache kommen. Hierbei greift R. sogar gelegentlich wieder zur 27. Aufl. des NTGraece zurück, da die 28. Aufl. »substanzielle Kürzungen vorgenommen« habe (21). Dies alles führt nun unbeschadet der sieben Kategorien dazu, dass die Arbeit wie eine Ansammlung von Einzelexegesen zu Texten führt, die für das Oberthema der Hilfe in Verfolgung relevant sind. Hingegen kommen die Fragen des jeweiligen soziokulturellen Kontextes, der politischen und juridischen Situation eher flankierend zur Sprache. Die bereits angesprochene Ansammlung von mehr als 400 Belegstellen zum Thema lässt die Frage stellen, ob hier nicht stärker hätte gewichtet werden müssen, um eine Konzentration auf diejenigen Aussagen zu erhalten, die für das Thema zentral sind. Dies betrifft auch die zum Teil recht umfangreiche Ausdehnung auf Worte und Wirken Jesu zum Thema. R. jedoch verteidigt sein Vorgehen und seinen Einsatz bei jeder einzelnen Schriftstelle, um unsachgemäße Harmonisierungen auszuschließen (21). Immerhin wird in der Folge seines methodischen Vorgehens schon deutlich, dass das Thema der Verfolgung keinesfalls peripher oder auf markante Einzelfälle beschränkt bleibt, sondern zu einer grundlegenden Lebenserfahrung der frühen Christen gehörte.
R. unterbreitet die folgende Definition von frühchristlicher Christenverfolgung: »Aus neutestamentlicher Sicht ist Christenverfolgung das in der Ursache oder Mitursache christenfeindlich motivierte Vorgehen von Individuen oder Kollektiven gegen Chris-tusgläubige, wobei dieses in Form, Frequenz und Intensität beliebig variieren, gesetzlich oder ungesetzlich erfolgen, unterschied-liche Wirkabsichten beinhalten und auf alle Dimensionen der menschlichen Existenz abzielen kann.« »Betroffene deuten die Vorgänge als ein wiederholt angekündigtes, diabolisch inspiriertes Geschehen, das ihnen (auch) aufgrund ihres Christseins und insbesondere ihres Christuszeugnisses widerfährt. Es ist integraler Bestandteil der Nachfolge und letztlich gegen die Person Jesu, den Herrn und Christus, gerichtet.« (483) Es ist deutlich, dass R., der die christliche Binnenperspektive überwiegend im Blick hat und zu Frühdatierungen der neutestamentlichen Schriften neigt, sich auf einen zeitlichen Bereich noch vor dem Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan (112 n. Chr.) bezieht, in dem das Thema der Chris-tenverfolgung erstmals eine verbindlich anzuwendende Rechtsform erhielt. Hier hätte diskutiert werden müssen, ob der 1. Petrusbrief (335) und auch die Johannesapokalypse nicht diese neue Situation voraussetzen. Die Paränese in Röm 12,9–21 interpretiert R. allerdings schon auf dem Hintergrund zunehmender Stigmatisierung der stadtrömischen Christen durch die politischen Instanzen (122) in den späten 50er Jahren. In § 6, der Apologien und Rechtsmittel thematisiert, geht R. auch ausführlich auf den Prozess des Paulus ein. Die Erstrezipienten konnten und sollten den Bericht des Lukas auch paradigmatisch verstehen. Auffällig ist freilich, dass Paulus nach der Apg in seinem Prozess auf das übliche Verfahren der Bestechungsgelder verzichtet (400), was frühchrist-liche Gemeinden dann so nicht praktiziert haben. Bestechungsgeld er dienten vielmehr dem Dienst an den Gefangenen sowie der Bergung und Bestattung von Märtyrern. R. erkennt in 1Kor 6,7 (Verzicht auf das Einlegen von Rechtsmitteln) eine rein in­nerchristliche Maßgabe der Konfliktregelung, keinesfalls aber ein allgemeines ethisches Prinzip (396). In allen Fragen der Gegengewalt und des Gewaltverzichts unterstreicht R. die spirituelle und eschatologische Dimension der Texte, was eine direkte ethische oder pazifistische Anwendung möglicherweise übersieht.
Die Studie rückt mit der Verfolgung ein Thema in den Fokus, das in dieser Breite und Tiefenschärfe so bislang monographisch nicht bearbeitet wurde. Sie bereichert damit die Kenntnisse zum frühchristlichen Ethos um einen wesentlichen, den Alltag frühchristlicher Gemeinden durchgehend bestimmenden Faktor.