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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

685–687

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oesterreich, Nicole

Titel/Untertitel:

Kognitionswissenschaftliche Perspektiven auf biblische Visionserzählungen. Am Beispiel der Verklärung (Mk 9,2–9).

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2021. XVI, 444 S. = Biblical Interpretation Series, 196. Geb. EUR 139,00. ISBN 9789004499751.

Rezensent:

Christian Wetz

Dass es Religiosität auch mit psychologisch beschreibbaren Phänomenen zu tun hat, wissen wir spätestens seit William James’ »The Variety of Religious Experience« (1902). Dass die biblische Exegese davon gut 100 Jahre bis auf wenige Ausnahmen nicht so recht Kenntnis nehmen wollte, ist bemerkenswert. Zu diesen Ausnahmen gehören im deutschsprachigen Raum Gerd Theißen und Petra von Gemünden. Wegweisend auf dem Felde ist mittlerweile vor allem die skandinavische Exegese. Psychologie ist zu verstehen als die Wissenschaft von der Informationswahrnehmung und -verarbeitung; sie ist eine empirische Wissenschaft, die u. a. über die Kognitionswissenschaft und die Neurobiologie methodisch an die Naturwissenschaften mit ihren exakten Messmethoden andockt. Es geht in der Psychologie um die Frage, wie wir Sinneseindrücke neuronal verarbeiten, welches Bild unserer Umgebung im Bewusstsein entsteht (»Repräsentation«), wie wir darauf reagieren, und welche physiologischen Vorgänge währenddessen ablaufen. Dabei lässt sich cum grano salis sagen: »Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Gehirns.« (11, Peter Lampe zitierend) Arbeitet unser Zentralnervensystem nicht mehr im »Normalbetrieb«, kommt es zu Zuständen veränderten Bewusstseins (»Altered State of Consciousness«, ASC), d. h. die Umgebung und auch man selbst werden anders wahrgenommen als normalerweise, sie werden fehlrepräsentiert (vgl. 117!). ASCs können unterschiedlich induziert werden (z. B. durch Trance, durch Schlaf-, Wasser- oder O2-Mangel, pharmakologisch).
Nicole Oesterreich nimmt in ihrer Studie die forschungsgeschichtlich traditionsreiche Vermutung auf, dass einige biblische Texte ASC-Erfahrungen widerspiegeln könnten. Konkret beleuchtet sie die Perikope der Verklärung Jesu (Mk 9,2–9 par.). Die Studie ist eine veränderte Fassung der Dissertation O.s, die unter der Betreuung Jens Herzers und Marco Frenschkowskis an der Universität Leipzig entstanden ist.
Die Arbeit besteht sehr deutlich aus zwei Teilen: einem größeren methodischen (1–273) und einem wesentlich kürzeren exegetischen, der nur ein Kapitel umfasst (274–360). Es folgt noch ein sechsseitiges Schlusskapitel.
An Einleitung und psychologisch-exegetische Forschungsgeschichte (Kapitel 1 und 2) schließt sich Kapitel 3 an, in dem O. in die wichtigsten psychologischen Theorien zu ASCs einführt – inklusive eines Kapitels über die Philosophie des Geistes. Hierauf folgt das zentrale Kapitel 4, in dem es um die Frage geht, wie man die Neurowissenschaften mit ihren Methoden und Erkenntnissen wissenschaftlich-methodisch verantwortet für die Analyse von Texten in An­spruch nehmen kann. O. entscheidet sich nach gründlicher Reflexion für die Methode der kognitiven Narratologie, die u. a. auf David Herman zurückgeht. Sie ermöglicht ihr, zugleich zu fragen, »wie Informationen aus einem Text [kognitiv] vom Leser verarbeitet werden« (153) und »ob und wie Texte Interpretationen liefern können für eigene Erfahrungen« (153).
Kapitel 5 ist der Semantik und Phänomenologie neutestamentlicher und antiker Transzendenzwahrnehmung gewidmet – in betonter Absetzung von dem Vorausgehenden, das den heutigen state of the art zum Gegenstand hatte. Anhand einer Reihe von Begriffen (ἔκστασις, ἔνθεος, δαιμονίζομαι, אבנ κτλ.) und Phänomenen (Delphi, »prophetischer Wahnsinn« bei Cicero etc.) führt O. dem Leser vor Augen, wie verbreitet und alltäglich ASCs in der Umwelt des Neuen Testaments und der Antike im Allgemeinen waren.
Das kurze Kapitel 6 ist ein formgeschichtliches; es widmet sich dem Gattungsschema der Initiationsvisionen. O. macht geltend, dass der klassische »Berufungsbericht« unterdefiniert sei, insofern er den lebensverändernden Aspekt der Vision vernachlässige und ihn auf das Prophetentum beschränke. O. ist damit die Erste, die diese Gattung identifiziert und beschreibt.
Kapitel 7 schließlich wendet die gründlich erörterten methodischen Prolegomena auf die Verklärungsperikope an. O. legt die Perikope versweise aus und baut dabei auf der historisch-kritischen Herangehensweise auf, um dann jeweils einzelne Aspekte mit ihrem spezifischen Methodeninventar zu beleuchten. So lasse sich die sprechende Wolke Mk 9,7 als kontraintuitive Vorstellung beschreiben, da eine Wolke intuitiv der mentalen Kategorie »Räumlichkeit«, jedoch nicht »Mentalität« zugeordnet werde (vgl. 327). Diese kategoriale Überlagerung diene der Leserlenkung und betone so die Bedeutung von V. 7. O. ist nicht daran gelegen, einen etwaigen historischen Kern der Geschichte zu erweisen (wenngleich sie einen solchen nicht ausschließt, vgl. 293), sondern sie fragt auf der redaktionellen Ebene, wie die Visionserzählung die vorliegende kognitionswissenschaftlich beschreibbare Form erhalten haben kann. Ihre Antwort: Der Autor bediene sich ihm bekannter Erscheinungen von ASCs und forme die Geschichte gemäß diesem Wissen. Dieses Wissen teile er mit seinen antiken Lesern, so dass auch Aussagen auf der pragmatischen Ebene möglich seien; O. behauptet gar, das ἀκούετε αὐτοῦ (V. 7) gelte in einem gewissen Sinne auch dem modernen Leser (vgl. 358). Auf der Erzählebene offenbare die Geschichte einerseits die zugleich himmlische und menschliche Natur Jesu und beschreibe andererseits die lebensverändernde Initiationsvision der drei Jünger.
Kapitel 8 bietet einen Ausblick auf das Potential kognitionswissenschaftlich informierter Zugänge zu Texten.
Es ist ein seltenes Glück geworden, ein Buch in Händen zu halten, das sich auf 444 Seiten der Exegese von gerade einmal acht neutestamentlichen Versen widmet. O. hat sich mit großer Akribie selbständig in das vom Laien kaum zu überblickende Feld der Kognitionswissenschaften und der Neurobiologie eingearbeitet und es im methodischen Teil gründlich, sachgerecht und kritisch reflektierend für die Angehörigen ihrer eigenen Zunft aufbereitet. Bemerkenswert ist der Exkurs in die Philosophie des Geistes – ein interdisziplinärer Brückenschlag, der für gewöhnlich von Seiten der Psychologie, aber auch der Exegese, nicht geleistet wird.
Der ebenfalls hervorragende exegetische Teil der Arbeit führt dem Leser vor Augen, dass O.s Methoden in der Auslegungspraxis funktionieren. Zu betonen ist, dass O. stets zuerst den historisch-kritischen Königsweg geht, bevor sie die neuen methodischen Pfade betritt. An Einzelpunkten lässt sich freilich Kritik üben (z. B. markiert ἐγένετο mit Part. Präs. Mk 9,7 sicher keinen »erzählerischen Neueinsatz« wie Lk 2,1 [ohne Part. und Subjekt!], sondern das Entstehen der Wolke, vgl. 325), im Ganzen aber überzeugen die Ergebnisse des exegetischen Teils. Die eigentliche und nachhaltige Bedeutung der Studie jedoch liegt in der Aufbereitung der kognitionswissenschaftlichen Methoden für die Textarbeit.
Der Gattung »Rezension« gerecht werdend, sollen auch einige Monita namhaft gemacht werden: Die Anzahl an Verschreibungen (auch im Griechischen) hätte deutlich reduziert werden können. O. notiert in guter Absicht bei Personen fast durchgehend sowohl das Maskulinum als auch das Femininum, was aufgrund der komplexeren Syntax bisweilen zu grammatischen Fehlern führt (»ein Leser und eine Leserin […] kann«, 153), aber auch zu sachlichen (»Neutes-tamentliche Autorinnen und Autoren«, 151). Manche Formfehler haben sich eingeschlichen (so werden Lexikonunterartikel nicht einzeln bibliographiert). Den mit der Materie vertrauten Rezensenten verwundert, dass O. die in der Neueren Philologie beheimatete Schule des »Literary Darwinism«, der in manchem Überschneidungen zum Ansatz O.s bietet, offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat. Auch mag man anmerken, dass O.s Gattungserstbeschreibung der Initiationsvision die Arbeiten der Nestoren auf dem Gebiet der Ritualforschung, Arnold van Gennep und Victor Turner, nicht zur Sprache bringt.
All das, dem hier bereits viel zu viel Raum beigemessen wurde, nimmt der Arbeit freilich nichts von ihrem Glanz und ihrer Bedeutung als wissenschaftlicher Pionierleistung. Der Rezensent verheißt dem Werk eine große Langlebigkeit, insofern ihm das Potential innewohnt, ähnlich arbeitenden Exegeten (vielleicht auch Historikern und Philologen) mindestens im methodischen Teil als Lehrbuch zu gereichen. Die neutestamentliche Wissenschaft zumindest wird fürderhin nicht umhinkönnen, die synoptischen Evangelien immer auch als synaptische Evangelien zu lesen – so wie auch den Rest des Neuen Testaments.