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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

678–680

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sheperd, David J., and Nicholas E. Johnson

Titel/Untertitel:

Bertolt Brecht and theDavid Fragments (1919–1921). An Interdisciplinary Study.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2021. 238 S. m. 3 Abb. = Scriptural Traces, 26. Kart. £ 28,99. ISBN 9780567704832.

Rezensent:

Karin Schöpflin

Die beiden Autoren stellen ihr interdisziplinär angelegtes Experiment mit Brechts fragmentarischer Dramatisierung des biblischen David-Stoffes dar, eines frühen Werkes, das weitgehend in Vergessenheit geriet, bislang wissenschaftlich kaum beachtet wurde und nur ein Mal aufgeführt wurde, nämlich 1995 am Hebbel-Theater in Berlin. Der Alttestamentler David J. Shepherd und der Theaterwissenschaftler Nicholas E. Johnson verfolgen einen eigenen Ansatz, um dieses Frühwerk Brechts zu erkunden: Der Weg beginnt mit einer Übersetzung der Fragmente ins Englische und führt weiter zu einem Vergleich der Brechtschen Texte mit der biblischen Vorlage. Dabei steht die Charakterisierung der Personen im Mittelpunkt, weil diese im Rahmen eines Theaterstückes zentral ist. Hinzu tritt ein vergleichender Blick auf drei repräsentative Dramatisierungen des David-Stoffes aus dem zeitlichen Umfeld Brechts. Die Schritte stehen im Zusammenhang mit dem Entstehungsproz ess der Aufführung der Fragmente. Das Verfahren mit der Be- zeichnung »Practice-as-Research« soll einerseits das Verständnis von Brechts Textfragmenten in ihrer Entstehungszeit fördern und vertiefen, andererseits deren Aktualisierung auf der Bühne in der Gegenwart der beiden Wissenschaftler und der an der Aufführung beteiligten Studierenden ermöglichen.
In der Einleitung weisen die Autoren auf die Bedeutung der Bibel für Brecht in seiner Kindheit und Jugend hin – dass die Bibel seine wichtigste Inspirationsquelle war, äußerte Brecht selbst 1928 in einem Zeitschrifteninterview. Die Textgrundlage umfasst acht mehr oder minder ausdifferenzierte Entwürfe zu Abfolge und Struktur oder Szenenübersichten des geplanten Stückes sowie elf Dialogfragmente unterschiedlicher Länge, die in der Großen Kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Brechts vorliegen. Die Autoren zogen ergänzend Brechts Tagebücher aus der Zeit 1919–1921 heran. Ein grundsätzliches Interesse besteht an der Rezeptionsgeschichte der Bibel, ihrem Nachleben bzw. Fortleben oder Überleben – diese Begrifflichkeit wird diskutiert und am Beispiel der biblischen Gestalt Samuel illustriert: Anhand von 1Sam 28 wird gezeigt, dass der von der Frau in Endor heraufbeschworene Geist Samuels sich zwar von dem lebenden Samuel unterscheide, dass aber doch eine Kontinuität gegeben sei. Ein vergleichbarer Zusammenhang und Unterschied bestünde zwischen dem biblischen David und dem David Brechts, weil die beiden unterschiedlichen Welten entstammten. Schließlich wird der Verlauf des Projektes skizziert, das sich aus vier Workshop-Einheiten 2015–2018 zusammensetzte.
Das 1. Kapitel bietet die Übersetzung der deutschen Texte ins Englische. Die Übersetzung sei das Ergebnis eines Prozesses in sechs Schritten, Ziel war ein spielbarer Text. Dieser wird abgedruckt und mit kommentierenden Fußnoten versehen. Sie weisen auf mögliche Varianten des englischen Wortlautes angesichts einer Mehrdeutigkeit im Deutschen hin, nennen Bezüge zu biblischen Texten und markieren die Stellen, an denen die Aufführung die Übersetzung beeinflusste.
Kapitel 2 und 3 widmen sich den Hauptfiguren in den Fragmenten, die in der biblischen Erzählung vorgegeben sind. Die Vorbemerkung zu Kapitel 2 belegt Brechts Interesse an der David-Gestalt seit 1916 aus seinen Tagebüchern. Darin vertrat Brecht etwa im Blick auf die Batseba-Affäre in 2Sam 11–12, dass David selbst das erstgeborene namenlose Kind getötet habe. Damit greife Brecht der »hermeneutic of suspicion« (73) vor, die in der Bibelexegese des 20. Jh.s als Misstrauen hinsichtlich der Historizität der biblischen Darstellung Davids aufkam.
Kapitel 2 wendet sich Uria (und Batseba), Absalom und Isai zu. Uria und Batseba erscheinen lediglich in den Szenenübersichten Brechts. Sie treten dort gemeinsam auf, und Uria begegnet Absalom. Diese Figurenkonstellationen gibt es in 2Sam nicht, doch leisten die Interaktionen zwischen Bühnenfiguren einen wichtigen Beitrag zu deren Charakterisierung. Zu Absalom erheben die Autoren zunächst den biblischen Befund. Brecht interessiere sich vor allem für Absaloms Aufstand und seinen Tod; Letzterer werde in den David-Fragmenten beschreibend antizipiert. Das Fragment B5 bietet zudem ein Klagelied auf Absalom. Davids Vater Isai bzw. Jesse ist nach biblischem Befund eine Randfigur. Es falle auf, dass der biblische Saul – abwertend – von David als »Jesses Sohn« spricht, während Brecht diese Bezeichnung in einer Straßenszene den Leuten in den Mund legt. Auf dem Höhepunkt der längsten ausgearbeiteten Szene Brechts (B10) tritt Jesse auf, um Davids Versäumnisse als Hirte zu kritisieren und ihn als Faulpelz zu beschimpfen. David bringt dem Vater wenig Respekt entgegen, der ihn gerüstet in den Krieg schicken will, während David nur seine Schleuder mit in den Kampf nehmen will. In der Begegnung zwischen David und Jesse vermuten die Autoren autobiographische Züge, die das Verhältnis Brechts zu seinem Vater spiegeln, der den Sohn für arbeitsscheu hielt.
Kapitel 3 beschäftigt sich mit den Gestalten Jonathan, Saul und David. In der biblischen Darstellung der Freundschaft zwischen David und Jonathan halten die Autoren eine homoerotische Beziehung für unwahrscheinlich. Brechts Fragment B10 zeigt die erste Begegnung zwischen David und Jonathan. Brecht nutze Jonathan vor allem, um David zu charakterisieren. Denn er verschweigt Jonathans vorhergehende militärische Karriere und lässt ihn fast nur Fragen an David richten. Unter den Fragmenten findet sich eine längere, ausgearbeitete Szene zwischen Saul und David (B9), die sich an 1Sam 16,14–21 orientiert. Bei Brecht spielt David nicht nur Harfe, sondern singt dazu nach Art der Psalmen. Davids kurze Antworten auf Sauls Fragen bezeugten sein Unbehagen und Un­verständnis; Sauls mental instabilen Zustand, der sich im Laufe der Szene steigere, deuten die Autoren als Symptom unterdrückter homoerotischer Empfindungen für David, die den jungen Mann schließlich zur Flucht veranlassten. Den Titelhelden David zeichne Brecht als träge, faul und frech sowie als am Kriegführen desinteressiert. Brecht lässt ihn den Leuten Parabeln erzählen. Wiederum sehen die Autoren eine Ähnlichkeit zwischen Brecht in der Zeit um 1920 und seinem Titelhelden David: Brecht suchte sich dem Wehrdienst durch ein Medizinstudium zu entziehen; zudem nahm er g egenüber anderen gleichfalls kein Blatt vor den Mund; ferner zeugten seine an Psalmen orientierten Gedichte (»Der siebte Psalm«) davon, dass er sich in der Tradition Davids gesehen habe.
Im 4. Kapitel wenden sich die Autoren drei ausgewählten Adaptationen des David-Stoffes aus dem zeitlichen Umfeld Brechts zu. Lion Feuchtwangers nur fragmentarisch erhaltener Einakter »König Saul«, 1905 uraufgeführt, basiert auf 1Sam 28: Die Totenbeschwörerin ist Sauls ehemalige Geliebte, die David bei sich versteckt hält. Saul bringt es nicht über sich, den schlafenden David zu töten, wie die Frau es ihm nahelegt. Nach eigener Aussage ging es Feuchtwanger um das Prinzip des Willens zur Macht, nicht so sehr um die Charaktere. Brechts Altersgenosse Otto Zarek, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, schrieb ein fünfaktiges Drama »David«, das die biblische Vorlage in 1Sam 17–2Sam 5 frei gestaltet.
Als eine Besonderheit heben die Autoren hervor, dass Zarek unter anderem Sauls Sohn Isch-Boschet mehr Raum gibt: Dieser schmiedet ein Komplott mit den Philistern, um David, Saul und Jonathan in den kriegerischen Auseinandersetzungen auszuschalten. Das Grundthema des Stückes sei der Generationenkonflikt, in dem die Jugend über das Alter triumphiere, so dass – auch aus Brechts Sicht – ein »Ideendrama« vorliege. Brecht kannte Zarek persönlich und betrachtete ihn als Konkurrenten, dem er sich überlegen fühlte. Mit der Szene zwischen Saul und David (B9) setze sich Brecht bewusst von Zarek ab. Als drittes Bühnenstück betrachten die Autoren André Gides »Saül« (1903). Darin fand Brecht die homoerotische Neigung Sauls vorgebildet, die David gilt und dezent angedeutet werde, als Saul eine erotisch geprägte Begegnung zwischen David und Jonathan beobachtet. Gides Szene des Musizierens Davids vor Saul fungiere als Vorbild für den entsprechenden Auftritt bei Brecht. Grundthema Gides sei es, die Gefahr zu illustrieren, einem destruktiv wirkenden Begehren nachzugeben. Während alle drei ausgewählten Dramatisierungen aus Brechts Umfeld eine grundlegende Idee verfolgen, ging es Brecht darum, ein »einfaches Stück« zu schreiben, das aus Davids Leben erzähle.
Das 5. Kapitel behandelt »The David Fragments in Practice and Performance«. Vor dem eigenen Theaterprojekt befassten sich die Autoren mit der deutschen Erstaufführung der Fragmente 1995 am Hebbel-Theater in Berlin unter der Regie von Brigitte Grothum. Eine Tabelle (166–167) gibt einen Überblick über den Ablauf dieser Aufführung, die Brechts Fragmente durch biblische Texte sowie Auszüge aus Brechts Tagebüchern sowie Gedichte und Lieder ergänzte. Das Stück wurde seinerzeit als Theaterprobe inszeniert.
Die Autoren erläutern das am Trinity College Dublin etablierte akademische Verfahren »practice as research« (PaR), das als kollektives Theaterexperiment theoretischen und empirischen Zugängen eine weitere Dimension hinzufüge und interdisziplinär angelegt sei. Sie schildern die insgesamt vier Workshops (vgl. die tabellarische Übersicht, 178). Die Aufführung (zusammenfassender Überblick, 188–189) arbeitete mit den Mitteln der Verfremdung und des epischen Theaters, zeigte offen ihren experimentell-fragmentarischen Charakter und eine Spannung zwischen drei zeitlichen Ebenen, nämlich der Geschichte des biblischen David, der Zeit der Abfassung durch den jungen Brecht und der Aufführungsgegenwart.
Die Schlussbetrachtungen bieten eine Zusammenfassung nebst einem Ausblick auf Brechts weitere Beschäftigung mit dem Stoff (1937–1944 entstand sein Opernfragment Goliath). Zudem betonen die Autoren ihren besonderen Zugang: Die Theaterpraxis wirkte auf die Übersetzung ein, für die Aufführung entwickelte Gesten und Symbole beeinflussten die Bibellektüre. Es zeigte sich, dass Brecht die Bibel in den Dienst von Aussagen über seine eigene Zeit stellte. Die allgemeine Erkenntnis, dass Literatur nur dann weiterlebe, wenn sie mit der Zeitgeschichte – in diesem Fall 1919–1921 und 2017 – verflochten sei, beschließt die Ausführungen.
Der Band präsentiert einen methodischen Zugang, bei dem der biblische Text durch den Vergleich mit einer Dramatisierung profiliert wird. Aus exegetischer Sicht überaus ungewöhnlich ist dabei der Auslegungsprozess, der über die Erarbeitung einer Aufführung geschieht, die dann eine Rückwirkung auf das Verständnis der Fragmente Brechts und auf diesem Weg auch der biblischen Erzählung selbst entfaltet.