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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

672–674

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Enke, Paulus

Titel/Untertitel:

Traum und Traumdeutung in den christlichen Apokryphen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 432 S. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 124. Geb. EUR 110,00. ISBN 9783525517062.

Rezensent:

Silke Petersen

Die zu besprechende Arbeit von Paulus Enke wurde 2018 als Dissertation an der Universität Leipzig angenommen. Sie befasst sich mit frühchristlichen Apokryphen, die Träume enthalten, thematisieren oder besprechen. Der Band stellt zunächst überblicksartig die Befunde in diversen apokryphen Schriften zusammen und enthält sodann im zweiten Teil eine detaillierte – insbesondere psychoanalytische – Deutung dreier Träume, die aus den apokryphen Apos-telakten stammen.
Nach einer problembewussten Einleitung zu antiken Träumen und Traumkategorien sowie den Möglichkeiten und Grenzen, sich diesen tiefenpsychologisch zu nähern, folgt ein erster Durchgang durch die Traumstellen in den christlichen Apokryphen. Behandelt werden die Andreasakten, die Akten des Andreas und des Matthias in der Stadt der Menschenfresser, die Johannes-, Paulus-, Petrus- und Thomasakten sowie von den später zu datierenden noch die Barnabas- und Philippusakten. Zudem findet sich im Kapitel über die »Apostelakten« auch ein Durchgang durch die Pseudoklementinen. In einem nächsten Teil geht es unter der Überschrift »Kind heitserzählungen« um folgende Texte: das Protevangelium des Jakobus, das Pseudo-Matthäusevangelium, die Geschichte von Jo­seph dem Zimmermann, das Nikodemusevangelium/die Pilatusakten, der Brief des Pilatus an Herodes, das Pergamentblatt K 9403, »An Encomium on Saint John the Baptist« unter dem Namen des Johannes Chrysostomos und das arabische Kindheitsevangelium. Anschließend werden noch Texte mit »negativem Traumbefund« vorgestellt (die Kindheitserzählung Jesu in der »Himmelfahrt des Jesaja«, ein Auszug aus dem Leben Johannes des Täufers und die Kindheitserzählungen des Thomas). Etwas überraschend schließt dieser Abschnitt mit Ausführungen zum Kölner Mani-Kodex.
Den Einzeluntersuchungen ausgewählter Träume ist sodann eine »Einführung in die tiefenpsychologische Traumdeutung unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse« vorangestellt, in der E. Traumtheorien von Freud, Jung sowie neuere Ansätze zur Traumanalyse präsentiert, wobei deutlich wird, dass er eine Art kombinatorisch-eklektischen Ansatz verfolgt und keinen Zugang prinzipiell ausschließt. In den anschließenden ausführlicheren Analysen der Träume des Andreas (ActAndr 20), des Marcellus (ActPetr 22) und des Charis (ActThom 91 f.) wird sowohl historisch-kritisch als auch psychoanalytisch argumentiert, zum Teil überschneiden und ergänzen sich dabei die Ergebnisse.
Die verschiedenen Teile der Arbeit sind unterschiedlich ergiebig für jenes Unterfangen, das E. offensichtlich vor allem bewegt, nämlich psychoanalytisches Instrumentarium für die Deutung antiker Träume fruchtbar zu machen. E. fasst den Ertrag des ersten Teils seiner Arbeit folgendermaßen zusammen: »Die christlichen Apokryphen enthalten eine größere Anzahl an Träumen, die einen Offenbarungsweg Gottes darstellen. Sie wirken zum Teil richtungsweisend. Aber sie sind meist einfarbig gestaltet und in der Regel ohne Deutung verstehbar. Das heißt: Sie sind eher theologisches als literarisches Gestaltungsmittel. Zudem ist eine grundlegende Skepsis bzw. ein Vorbehalt ihnen gegenüber nicht zu übersehen.« (360; kursiv im Original) Im Zusammenhang mit diesem Ergebnis lässt sich die Textauswahl der berücksichtigten Apokryphen anfragen. Gleich in der ersten Anmerkung des Bandes wird dazu konstatiert: »Eine Begrenzung oder gar Festlegung eines Corpus christlicher Apokryphen erscheint kaum als möglich. Als Bezugsrahmen für oder gegen die Zuordnung einer Schrift zu den christlichen Apokryphen dient für die vorliegende Arbeit die zweibändige Apokryphenübersetzung von Bovon/Geoltrain (Hg.), Écrits apocryphes chrétiens.« (13) Bei aller Schwierigkeit der Ab­grenzung erschient dies doch eine etwas willkürliche Setzung, die dann auch nicht konsequent durchgehalten wird: So ist etwa Pergamentblatt K 9403 bei Bovon/Geoltrain nicht enthalten (vgl. dazu 181), dafür aber (im zweiten Band) das Evangelium nach Maria, das wiederum von E. nicht berücksichtigt wird, obwohl Maria dort Christus in einer »Vision« (Horoma, BG, 10,11.13.14 f.) begegnet, was ein Terminus ist, der häufig im Zusammenhang der bei E. besprochenen Texte auftaucht (gr. ὅραμα; lat. visio). Nahezu durchgehend zeigt sich in dem bei E. untersuchten Material die Schwierigkeit, »Träume« und »Visionen« und die zugehörigen diversen Termini in den antiken Sprachen trennscharf voneinander abzugrenzen (vgl. 172 u. ö.), was möglicherweise bedeutet, dass unsere Kategorien für die antiken Texte nicht passgenau sind.
Zudem fällt noch eine andere Absenz auf: Die Träume Perpe-tuas aus den Akten der Perpetua und Felicitas dürften zu dem interessantesten frühchristlichen Traummaterial gehören, kommen jedoch im vorliegenden Band lediglich kurz als Paralleltext zur Sprache (vgl. 297 f.). Da der interessanteste und innovativste Teil von E.s Beitrag in der Anwendung psychoanalytischer Traumtheorien auf die antiken Texte liegt, wäre eine Berücksichtigung von Perpetuas Träumen spannend gewesen (auch da es hier schon psychoanalytische Überlegungen gibt, so von der Jung-Schülerin Marie-Luise von Franz). Demgegenüber ist der Durchgang durch die Kindheitsevangelien für die Traumdeutung weniger ergiebig – enthalten diese doch überwiegend leicht veränderte Nacherzählungen der Träume aus Mt 1–2 – oder eben gar keine Träume, wie die unter dem »negativen Befund« subsumierten Texte (s. o.).
Die geäußerten Anfragen an die Textauswahl sind zugleich als Lob zu verstehen: Am spannendsten ist jener Teil des Bandes, in dem psychoanalytische Traumdeutung auf die drei ausführlicher analysierten Träume angewendet wird. Der Zugang erweist sich als fruchtbringend und weiterführend. In allen drei Fällen werden rätselhafte Aspekte der komplexen Träume durchsichtig gemacht. Dies gilt etwa für die Figur des Schattens zur Erläuterung des Verhältnisses von Simon Magus und Simon Petrus (97–100.315–318), für die Theorien der Verschiebung (277.302 f.) oder für die verschlüsselten sexuellen Begehrlichkeiten, die u. a. den Traum des Charis in ActThom 91 f. prägen. In diesem Traum liegen Charis und König Misdai miteinander beim Mahl, als ein Adler erscheint und ihnen nacheinander die Vögel raubt, die sie essen wollen. Die verschiedenen Vogelarten sind durchsichtig auf Personen der Akten: Der raubende Adler ist Christus (sowie auch sein Stellvertreter und Zwilling Thomas), der u. a. die zum Christentum bekehrte Ehefrau des Charis namens Mygdonia von der Notwendigkeit der Enthaltsamkeit überzeugt und somit ihrem Ehemann entzieht. Das enkratitische Ideal der Thomasakten bildet den Grund für die Symbolisierung verschobenen Begehrens: Es wird nicht nur Mygdonia von ihrem Ehemann vergeblich begehrt und vom Adler entführt, sondern noch weitere Vögel, die für ebenfalls zum Christentum bekehrte weitere Personen der Thomasakten stehen: »[D]ie Libido scheint aufgrund des Enkratismus so aufgestaut zu sein, dass das Gegenteil des ehelichen sexuellen Lebens, nämlich ein polygames, ersehnt wird.« (353) Eingeschlossen in die Deutung dieses Traumes ist auch eine gleich anschließende (Fehl-)Handlung des Charis: Er zieht den linken Schuh an den rechten Fuß. In der Deutung kommt dem Streben nach der »Vereinigung von Gegensätzen« (besonders 354) eine wichtige Rolle zu. Unterstützend für diese Deutung ließe sich noch auf weitere Passagen der Akten hinweisen, wo die Aufhebung von Gegensätzen eine Rolle spielt (ActPhil 140; ActPetr 38; ActThom 129). Fazit: ein lesenswertes Buch – trotz Perpetuas bedauerlicher Abwesenheit.