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Ausgabe:

Juli/August/2022

Spalte:

668–670

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Harlass, Ulrich

Titel/Untertitel:

Die orientalische Wende der Theosophischen Gesellschaft. Eine Untersuchung der theosophischen Lehrentwicklungen in der Zeit zwischen den Hauptwerken Alfred Percy Sinnetts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. IX, 513 S. m. 9 Tab. = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, 77. Geb. EUR 123,95. ISBN 9783110698701.

Rezensent:

Andreas Nehring

Der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad bezeichnet in seiner 2004 erschienenen Geschichte der Esoterik (Was ist Esoterik?) die Gründung der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1875 als den Beginn der modernen westlichen Esoterik, ohne die der Einfluss der Esoterik bis in unsere Zeit gar nicht möglich gewesen sei und auch nicht verständlich gemacht werden könne. Damit formuliert er treffend eine in der Wissenschaft zur Esoterik beinahe durchgängige Auffassung, die sich in zahlreichen Untersuchungen zur Theosophischen Gesellschaft findet. Dabei, und auch das ist nach wie vor die dominante wissenschaftliche Perspektive, wird Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) als Begründerin und zentrale Autorin dieser Bewegung angesehen. In ihren Werken werden verschiedene neuzeitliche esoterische Traditionslinien, die allerdings bis in die Antike zurückreichen, gebündelt. Darüber hinaus wird konstatiert, dass der Erfolg der Theosophischen Gesellschaft als wichtige esoterische Organisation sich insbesondere nach der Aufnahme östlicher Lehren in das theosophische Lehrsystem eingestellt habe, wie man es in Blavatskys Werk The Secret Doctrine von 1888 beobachten könne, während diese Lehren in ihrem früheren Werk Isis Unveiled von 1877 noch keine Rolle gespielt haben. Die Aufnahme dieser östlichen Lehren wird in der Forschung »Die Orientalische Wende« genannt.
Ebendieser Wende widmet sich die Untersuchung von Ulrich Harlass. In seiner Heidelberger Dissertation konstatiert er in Übereinstimmung mit der dominanten Auffassung, dass die Theosophische Gesellschaft als eines der prominentesten Phänomene in dem Bereich der Esoterik firmiert; er hinterfragt aber die in der Forschung weitgehend vertretene Auffassung von einer Kontinuität von Esoterik-Strömungen seit der Antike, die als »westlich« klassifiziert werden, ebenso wie die Unterscheidung von Ost und West, die mit der Postulierung einer »orientalischen Wende« einhergeht.
Ausgehend von der in der Forschung vertretenen Auffassung, dass die Theosophische Gesellschaft für die Globalisierung von Esoterik entscheidende Impulse gegeben hat und dass insbesondere die Aufnahme östlicher Elemente und die Übersiedlung der Protagonisten Blavatsky und Henry Steele Olcott nach Indien den Erfolg der Theosophischen Gesellschaft im 19. Jh. entscheidend befördert habe, fragt H., ob nicht ein grundsätzlich neuer methodischer und theoretischer Ansatz gefunden werden muss, um die Theosophische Gesellschaft als Teil einer globalen Religionsgeschichte zu verstehen.
Während der Forschungsgegenstand »Esoterik« oftmals als eine (alternative oder vernachlässigte) Denktradition der europäischen Religionsgeschichte aufgefasst wird, schließt sich H. seinem Heidelberger Lehrer Michael Bergunder an, der diese Annahme radikal problematisiert hat und mit Hilfe einer kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung die diskursive Konstitution von Esoterik herausstellt. Dem entsprechend argumentiert H., dass sich, wenn man genealogisch arbeitet, statt nach einer linearen Geschichte zu fragen (er bezieht sich dabei auf Foucault), zeigt, dass sich der Gegenstand der Theosophie überhaupt erst in gegenwärtigen Diskursen konstituiert. Damit wird natürlich nicht die Existenz der Theosophischen Gesellschaft als einer historisch gewordenen Or­ganisation in Frage gestellt, wie aber wir heute Theosophie sehen, kann nicht von einem vermeintlichen Ursprung abgeleitet werden. Die Gegenstandsbestimmung der »orientalischen Wende« in der Theosophie entwickelt H. daher konsequent in einem ständigen Bezug auf die Forschung, indem er die Narrative, die von der heutigen Forschung über die Theosophie produziert werden, je­weils kritisch hinterfragt. Das hat Auswirkungen auf den Aufbau der Arbeit, die so strukturiert ist, dass eine kritische Betrachtung der Forschungslage vor jedem Kapitel entfaltet wird, um deutlich zu machen, welche aktuelle Relevanz diese für den zu behandelnden Gegenstandsbereich hat.
Es geht H. dezidiert nicht darum, eine Ursprungsgeschichte der orientalischen Wende in der Theosophie zu beschreiben, also das Moment herauszuarbeiten, an dem die ursprünglich westliche Orientierung der Gesellschaft sich auf den Osten verlagert hat, sondern er will zeigen, dass »Westen«, »Osten«, aber auch vermeintlich östliche Konzepte wie »Reinkarnation«, »Karma«, »Nirvana« u. Ä. überhaupt erst in einem diskursiven Aushandlungsprozess entstanden sind, an dem nicht nur die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft ihren Anteil hatten, sondern auch die Religionswissenschaft und insbesondere die Esoterik-Forschung. Unter Bezugnahme auf zentrale Ansätze der Postkolonialen Theoriebildung und ausgehend von Edward Said und seinem diskursprägenden Werk »Orientalism« zeigt H., dass der »Orient« nicht als eine Entität sui generis zu sehen ist, sondern viel mehr als ein »diskursives Produkt« (42) unterschiedlicher westlicher Machtinteressen. Er nimmt aber auch die inzwischen breit geäußerte Kritik an Saids Ansatz auf, dass dieser den Orient als rein westliches Produkt aufgefasst habe und daher letztlich von einer impliziten Annahme eines vorgängigen »Westen« ausgegangen sei, dessen Wesen genauso zu hinterfragen ist wie das eines angenommenen »Ostens«. Wenn man Ansätzen von Stuart Hall und Dipesh Chakrabarty folgt, kann nämlich, so H., die historisch gegenseitige Bedingtheit der Repräsentation von Ost und West offengelegt werden. Diese Bezugnahme auf postkoloniale Debatten ist insofern für die Arbeit zentral, als H. zeigen will, dass die sogenannte »orientalische Wende« in der Theosophie gar nicht in der Begegnung der Protagonis-ten mit Indien und Sri Lanka zu verorten ist, sondern vielmehr aus einem innertheosophischen Diskurs heraus konstruiert wurde. Darüber hinaus macht er deutlich, dass diese Wende zwar zwischen den Hauptwerken von Helena Blavatsky, also zwischen 1877 und 1888 anzusiedeln ist, dass aber diese Wende keineswegs von Blavats-ky selbst im Zusammenhang mit ihrer Übersiedlung nach Indien eingeleitet wurde. Damit steht auch die in der Forschung durchgehend vertretene Auffassung von der Autorenfunktion Blavatskys in Frage. Als Autorin und Initiatorin der »orientalischen Wende« wurde sie erst in der Retrospektive und das heißt in kontroversen Diskursen über sie innerhalb der Theosophischen Gesellschaft und in der wissenschaftlichen Erforschung über dieselbe festgeschrieben.
Um das zu verstehen, ist es für die Leser und Leserinnen von H.’ Buch sehr hilfreich, dass er Bezug nimmt auf Ansätze der amerikanischen Philosophin Judith Butler, die aufgezeigt hat, wie durch Wiederholung im Diskurs bestimmte Auffassungen, Perspektiven und Positionen sedimentiert werden, also sich so festsetzen, dass sie für den weiteren Diskurs geradezu normative Bedeutung annehmen. H. fragt daher danach, wie Blavatsky zur Urheberin theosophischer Lehren bestimmt worden ist, und er weist auf eine Lücke in der Forschung hin, die bislang kaum beachtet wurde. Das sind die Publikationen von Alfred Percy Sinnett, der 1881 ein Buch mit dem Titel »The Occult World« und 1883 sein »Esoteric Bud­dhism« vorgelegt hat. Zwar wird in der Forschung die Bedeutung von Sinnett in der Theosophischen Gesellschaft hervorgehoben oder zumindest nicht geleugnet, dass aber diese beiden Werke zwischen den Großpublikationen von Blavatsky erschienen sind, ist bislang in seiner Bedeutung für den theosophischen Diskurs noch nicht beachtet worden. H. konzentriert seine Untersuchung daher auf den Zeitraum zwischen 1881 und 1883 und legt mit seiner Arbeit eine systematische Darlegung der beiden Werke von Sinnet vor. Das ist insofern schon zu würdigen, als erstmalig diese einflussreichen Werke auf die Lehrbildung der Theosophie einer ge­ nauen Analyse unterzogen werden. Dabei kann H. zeigen, wie zentrale Konzepte in der Lehre der Theosophischen Gesellschaft, wie die siebenfache Konstitution des Menschen, das Konzept von »Devachan«, Reinkarnation, Karma, Evolution oder die Rassentheorie in komplexen und oftmals widersprüchlichen innertheosophischen Debatten entwickelt worden sind, wie dabei der An­spruch auf Wissenschaftlichkeit der Lehren, gerade auch gegenüber dem Christentum, aber auch dem Spiritismus immer wieder hervorgehoben wurde und wie dabei auch sukzessive ein Konzept vom spirituellen Orient ausgebildet wurde.
Die Untersuchung von H. ist insofern besonders zu würdigen, als sie eine neue theoretisch und methodisch fundierte Zugangsweise auf die Erforschung der Theosophischen Gesellschaft eröffnet, die über die Beschäftigung mit Sinnet und der »orientalischen Wende« hinaus Ansatzmöglichkeiten zu zahlreichen weiteren Forschungen zur Lehrentwicklung innerhalb der Theosophie aufzeigt.