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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

619–620

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herzig, Ferenc, Sacher, Konstantin, u. Christoph Wiesinger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kirche der Zukunft – Zukunft der Kirche. 23 junge Pfarrerinnen und Pfarrer erzählen.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2021. 223 S. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783579074313.

Rezensent:

Jan Hermelink

Anzuzeigen ist kein wissenschaftliches Buch, auch kein Buch, das ausdrücklich wissenschaftliche Einsichten verarbeitet. Die Pfarrpersonen, die hier mit kurzen, essayistischen Texten zu Wort kommen, formulieren vielmehr sehr persönliche Zukunftsbilder, die zum Teil als (Alp-)Träume erscheinen, öfter jedoch eigene Praxiserfahrungen extrapolieren und generalisieren. Das Buch ist daher weniger als Prognose interessant; es bietet vielmehr – aus der Sicht 30- bis 40-jähriger Leitungskräfte – einen differenzierten Einblick in die gegenwärtigen Verhältnisse der deutschsprachigen evange-lischen Landeskirchen.
Dem praktisch-theologischen Blick auf Form und Inhalt der Beiträge kommt dabei zunächst vieles bekannt vor: Die Verhältnisse waren und sind von großer Vielfalt; die enormen Unterschiede zwischen ostdeutscher Diaspora, etwa in Halle/S., und westdeutscher Mehrheitskirche, etwa in einer fränkischen Mittelstadt, werden ebenso deutlich wie die unterschiedliche Radikalität kirchlicher Umbrüche, von vorsichtigen »Grenzüberschreitungen« in der Wiener Vorstadt (59 ff.) bis zur vollmundigen Rede vom »ekklesialen Nullpunkt« in Bern (176 ff.).
Aus den Reformprogrammen der letzten Jahrzehnte vertraut ist sodann das Pathos, mit dem die ›Begegnung‹ mit ›den Menschen‹ außerhalb von Kirchenmauern und Kerngemeinde gesucht wird; dabei sind meist jugend- oder subkulturelle Milieus im Blick, seltener marginalisierte oder modernitätsskeptische Gruppen. Wo es konkreter wird, denken die Autorinnen über alte und neue Segenshandlungen nach (28 f.101 f.205 u. ö.); und sie schildern (eher punktuelle) Kooperationen mit Kleinkunst und Protestbewegungen.
Gegenstand struktureller Kritik sind »bürokratische« Verwaltungs- und andere Vorgaben; parochiale und konfessionelle Grenzziehung; die Verknüpfung von Taufe, Mitgliedschaft und Steu-erpflicht; und gelegentlich eine zu text- und traditionslastige theologische Ausbildung (32 f.36 f.96). Die Gegenentwürfe, etwa re­gionale Profilierung (50.86 ff.108 u. ö.) oder die mehrmals erwähnten »Erprobungsräume«, bleiben eher vage.
Die kritische Perspektive auf die kirchliche Gegenwart wird – auch das ist nicht neu – hier ganz vorwiegend von Pfarrerinnen (die zehn Pfarrer sind mitgemeint) artikuliert, die akademisch gut ge­bildet (ein Drittel mit Promotion) sind, Auslandserfahrung haben und häufig Funktions- oder Projektstellen innehaben. Das mag die große Sprachkraft erklären, die die meisten Texte kennzeichnet, auch das durchgehende Plädoyer für das Experiment. Diakonische und pädagogische Arbeitsfelder bleiben jedoch am Rand; und die ›ganz normale‹ ortsgemeindliche Perspektive ist weniger deutlich – die Herausgeber, ihrerseits alle drei aus dem universitären Mittelbau, deuten an, dass »in den ersten Jahren im Pfarramt viele unter einem Anpassungsdruck stehen, der es ihnen unmöglich macht, sich mit ihren Ideen öffentlich zu äußern« (9).
Was den akademischen Rezensenten bekümmert, ist der weitgehende Verzicht auf theologische Rekurse: außer etwas Tillich und Barth, ein wenig Sölle und Josuttis-Vokabular (12.39) wird die (Praktische) Theologie offenbar nicht als zukunftsweisend begriffen. Dazu passt, dass die klassische Frage nach dem spezifischen »Auftrag« der Kirche – »Was können wir besser als andere? Was können vielleicht nur wir?« – nur noch vereinzelt gestellt wird (201 in der Pfalz; dazu 117 ff. in Bremen, 168 in der Reformierten Kirche); die meisten Beiträge setzen die kirchliche Sinnfrage als geklärt voraus oder überlassen sie ganz den je neuen Begegnungen. Anders gesagt, und das ist vielleicht neu: An die Stelle theologisch-refle-xiver Begründung tritt die persönliche Erfahrung, oft emotional gefärbt: mit Ärger und Witz, mit Angst und Mut.
Was auf diese Weise im Schatten bleibt, sind strukturelle Ambivalenzen. Das betrifft etwa die Haltung zu staatlichen Instanzen. Auf der einen Seite wird jede Staatsnähe abgelehnt: »Kirchensteuer kennt man hier nicht […], Staatskirchenverträge und Beamtenrecht sind abgeschafft. Auch Staatsleistungen sucht man vergeblich.« (11, ähnlich 96 f.194) Auf der anderen Seite werden die Kooperation mit kommunalen Verwaltungen, dazu staatliche Projektfinanzierungen gelobt (vgl. 22.78 f.180 f.).
Noch schärfer erscheinen die Widersprüche bezüglich der landeskirchlichen Organisation. Einerseits erscheinen die Kirchen-ämter als Bremsklotz der neuen Kreativität (135 f.); andererseits ist es gerade die kulturelle Vielfalt der 21 Landeskirchen, die die Herausgeber für die Auswahl je einer Pfarrerin, eines Pfarrers aus jeder Kirche genutzt haben. Zudem werden viele gängige Reformprojekte, auch die fresh expressions zum Gutteil zentral finanziert. Ein Autor formuliert sehr offen, was viele andere voraussetzen: Er wisse zwar nicht, »wie wir künftig unsere Pfarrstellen und Ar­beit finanzieren können. Und ich erlaube es mir […] in meiner jugendlichen Naivität, auf die Entscheider in den Landeskirchen zu vertrauen, dass sie das zu Ende denken mögen.« (23) Vielleicht sind die kirchenamtlichen Strukturen doch stärker, widerstän-diger und zukunftsfester, als viele junge und alte Pfarrer es hoffen.