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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

617–619

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dubiski, Katja

Titel/Untertitel:

Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie. Plädoyer für eine psychologisch informierte Seelsorge.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 321 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 69. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783374052158.

Rezensent:

Annette Haußmann

Es war an der Zeit für eine neue poimenische Rezeption der Kognitiven Verhaltenstherapie. Die Theologin und Psychologin Katja Dubiski hat 2017 ihre an der Ruhr-Universität Bochum angenommene Dissertationsschrift mit dem Ziel vorgelegt, die bislang weitgehend ausgesparte Therapierichtung der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) für die Poimenik theologisch zu reflektieren. Der Untertitel weist sogleich auf eine umfassende Agenda hin: D. tritt für eine umfassend »psychologisch informierte Seelsorge« ein, die sich in der Breite an aktueller psychologischer Theorie und gän-giger therapeutischer Praxis orientiert. Damit verbunden ist zu­gleich eine kritisch-konstruktive Perspektive auf die gegenwärtige pastoralpsychologisch geprägte Seelsorgelandschaft. Die interessierten Rezeptionen der Arbeit zeigen deutlich, wie konstruktiv das Werk bislang in der Poimenik aufgenommen wird (z. B. Klessmann, Psychologie und Theologie im Dialog, 2021; Karle, Praktische Theologie, 2020). Zudem sind mehrere Zusammenfassungen der Autorin erschienen (z. B. Pohl-Patalong/Lüdtke [Hgg.], Seelsorge im Plural, 2019; Haußmann/Höfelschweiger [Hgg.], Spiritualität und Sinn, 2020). Gute Gründe, die Arbeit nochmals intensiv wahrzunehmen.
In sechs Kapiteln entfaltet D. die Relation zwischen Seelsorge und Psychotherapie, um dabei historische Grundlagen, systema-tische Perspektiven sowie praktische Anschlussstellen zu bedenken.
Im ersten Teil werden die Stationen der Rezeption von Psychotherapie in der Seelsorge in breiter Weise beleuchtet, die mit ihren Spannungen immer auch produktive Neuentwicklungen der Poimenik begünstigt haben. Deutlich verweist D. darauf, dass die (Kognitive) Verhaltenstherapie bislang nicht nur am Rande der Poimenik ein Schattendasein fristete, sondern seitens der Pastoralpsychologie weitgehend reduktionistisch rezipiert wurde. Dies zeige eine diffuse Unkenntnis der Vorgehensweisen und Prinzipien der KVT und gehe auf die Abarbeitung an bereits überholten bzw. erweiterten Konzepten der KVT zurück, sichtbar etwa aus dem Behaviorismus abgestammten als mechanistisch empfundenen Menschenbild. Gegenüber Missverständnissen und Engführungen versucht D. im zweiten Kapitel ein breites Bild der KVT anhand der Konzepte von Albert Ellis, Aaron T. Beck und Harlich H. Stavemann zu zeichnen. Als große Stärke des Werks darf die anthropologische Durchdringung von Grundeinsichten der KVT und deren Vergleich mit theologischer Anthropologie gelten, die im dritten Kapitel auf die Freiheit des Menschen zugespitzt und im Rahmen protestantischer Theologie als ambivalent zwischen Realisierungsmöglichkeit und Abhängigkeitserfahrung charakterisiert wird. Dies dient nicht nur einer vertieften Beschau der therapeutischen Annahmen über das Menschsein, sondern ist auch der intendierten Selbstreflexion von Seelsorge zuträglich. So gewinnt die Poimenik an Selbstvergewisserung, erfährt aber auch kritische Anfragen aus der Perspektive der anderen Disziplin. Lernen könne die Seelsorge diesbezüglich insbesondere von einem Zukunftsoptimismus, der auf die Freiheit und Veränderungsoptionen des Menschen setzt und eine Konfliktanthropologie, wie sie in der gegenwärtigen Pas­toralpsychologie als vorherrschend wahrgenommen wird, ergänzen kann. Ein vierter Abschnitt konzentriert sich auf die brisante Frage nach einer »Wirksamkeit« von Psychotherapie und Seelsorge, wobei D. sorgfältig zwischen therapeutischen und seelsorglichen Wirksamkeitsverständnissen unterscheidet und der theologischen Perspektive die so wichtige Kritik impliziter Normativität zur Aufgabe gibt. Der Seelsorge gehe es jenseits von Dichotomien zwischen » gesund« und »krank« um eine umfassende Wahrnehmung des Menschen, wobei dennoch Methoden und Überzeugungen von KVT zur Lebens- und Glaubenshilfe und so zur Lebensgestaltung beitragen und bei der Minderung des Leidens helfen können. Schließlich erfolgt im fünften Kapitel ein weiter Blick in die Pluralität von Poimenik mit dem klugen Analyseergebnis, dass Prinzipien der KVT in der Seelsorge längst in einzelnen Ansätzen vertreten sind, etwa in der Seelsorge als Lebenskunst (Engemann), in der systemischen Seelsorge oder dem seelsorglichen Kurzgespräch (Lohse). Damit gelingt es D. hervorragend zu zeigen, dass es weniger um die Auseinandersetzung mit einer fremden Therapie- und Denkschule geht, sondern vielmehr Elemente der KVT längst zu den pluralen Strömungen der Poimenik dazugehören.
Insgesamt bietet das Werk eine sehr erfreuliche Aufnahme der KVT, die sich zwar auf drei Ansätze begrenzt, aber durchaus genügend Material für eine poimenische Auseinandersetzung erbringt. Dass dabei stellenweise die Pluralität heutiger KVT und auch deren heterogene Menschenbilder, wie sie schon immer, aber besonders seit der sogenannten »dritten Welle« der KVT vertreten sind, ein Stück weit eingeebnet werden, ist der pointierten Darstellung und der Konzentration auf die zweite Welle geschuldet. Dies trägt wiederum zu einer konzentrierten Auseinandersetzung mit theologischen Grundlagen produktiv bei. Aktuell ist innerhalb der Psychotherapie durch die Ansätze der »dritten Welle« der KVT eine Vielfalt entstanden, die eine einseitige Betonung des Kognitiven ergänzen wollen.
D. schafft eine erfrischende Perspektive auf die Vielfalt poimenischer Theoriebildung. Der umfassende Gang durch die Therapierichtungen, die in der Seelsorgelehre von der Psychoanalyse bis zur systemischen Theorie rezipiert wurden, überzeugt besonders. Ge­rade deshalb dient das Werk auch einer poimenischen Selbstreflexion, die produktive Anstöße für die Weiterentwicklung der Seelsorge geben kann und nicht allein auf die Rezeption einer bestimmten Therapierichtung zielt. Für die Poimenik darf deren Heterogenität neben aller Paradigmenkritik auch konstruktiv wahrgenommen werden: Pastoralpsychologie kann trotz starker Institutionalisierung nicht nur als in sich geschlossenes System verstanden werden, sondern bedarf der beständigen Ergänzung und Erneuerung, wie dies schon durch die Einflüsse systemischer Therapie oder der Gestalttherapie der Fall war.
Das prominente Plädoyer für eine psychologisch breit informierte Seelsorge hat an Aktualität noch gewonnen. Hinsichtlich etwa psychischer Belastungen, die sowohl im Pfarrberuf selbst entstehen als auch in der seelsorglichen Begegnung angesichts einer globalen Pandemie, die Menschen psychisch herausfordert. Aber auch im Blick auf die Entwicklungen in der Klinikseelsorge und darüber hinaus erscheinen eine psychologische Informiertheit für Seelsorgende und die theoretisch reflektierende Beschäftigung mit Konzepten wie Wirksamkeit geboten und nützlich. Anschlussfragen, wie diese zu erreichen seien und was sich daraus für die Aus- und Fortbildung ergibt, harren der Bearbeitung. Insofern repräsentiert der programmatische Anspruch ein bleibendes Anliegen der Poimenik: gleichermaßen Aktualität wie Dis­kurs zu suchen.
Einen wichtigen Grundstein für die weitere interdisziplinäre Verständigung, aber auch für Überlegungen der Weiterentwicklung der Seelsorge, etwa im Nachdenken über deren Wirksamkeit oder die bleibende Bedeutung anthropologischer Konzepte, hat D. mit ihrer Arbeit gelegt. So wurde ein neues Kapitel der Rezep-tionsgeschichte Kognitiver Verhaltenstherapie für die Seelsorgelehre ist aufgeschlagen – ein gelungener Auftakt für weitere Diskussionen.