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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

616–617

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Cebulj, Christian, u. Thomas Schlag [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Kreuzfahrt und Klosterküche. Formen kirchlicher Präsenz im Tourismus.

Verlag:

Zürich: Edition NZN bei Theologischer Verlag Zürich 2021. 234 S. = Forum Pastoral, 8. Kart. EUR 29,90. ISBN 9783290202071.

Rezensent:

Markus Globisch

Sakrale Räume haben sich in den letzten Jahren zu wichtigen touristischen Reisedestinationen entwickelt – man denke nur an den Pilger- und Kathedraltourismus. Touristik und Tourismusforschung diskutieren dieses Reisephänomen seit einigen Jahren verstärkt unter dem Begriff »Spiritueller Tourismus«. Ein vergleichbares Engagement ist in der religionsbezogenen Forschung sowie bei kirchlichen Verantwortlichen bisher nicht zu erkennen. Umso er­freulich ist es, dass die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Christian Cebulj und Thomas Schlag, in ökumenischer Ge­meinschaftsproduktion mit praktisch-theologischem Zu­schnitt, sich diesem Feld widmen.
Die 16 Beiträge des Bandes – teils aktualisierte Beiträge einer 2016 an der Theologischen Hochschule Chur durchgeführten Ta­gung, teils sinnvoll ergänzte, thematisch passende Aufsätze – be­schäftigen sich mit der Präsenz von Kirche als Gebäude und Ak-teurin im Tourismus, schwerpunktmäßig in der Schweiz. Neben wissenschaftlichen Texten, die in etwa die Hälfte der Beiträge ausmachen, dokumentiert der Band auch Best-Practice-Beispiele religiöser Destinationen, Erfahrungsberichte von Pilgernden, eine Reportage sowie ein journalistisches Interview. Insgesamt weisen die Beitragenden deutlich auf das Potential für Kirche im Tourismus hin.
Drei Abschnitte untergliedern den Sammelband. Im kleinsten, ersten Abschnitt mit der Überschrift »Menschen suchen Wege« (17–56) sind vier Beiträge zum Phänomen des Pilgerns abgedruckt. Hier kommen Pilgernde und Anbieter von Pilgertouren zu Wort. So reflektieren beispielsweise Hildegard Aepli und Franz Mali in ihrem Erfahrungsbericht (19–28) ihre Pilgerreise von der Schweiz nach Jerusalem, in der sie sich als »Kirche unterwegs« (24) wahrnehmen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Pilgern findet indes nicht statt.
Der zweite Abschnitt, »Kirchen öffnen Räume« (57–154), versammelt vorwiegend wissenschaftliche Texte, die sich in loser Reihenfolge mit Kirchenräumen als touristisch relevanten Orten beschäftigen. Christian Cebulj etwa entwirft in seinem Beitrag (59–73) eine bildungsorientierte Kirchenpädagogik für die Destination »Offene Kirche«. Er geht dabei auf »die besonderen Herausforderungen für den Kulturtourismus« (63) ein, wobei es gilt, das »kulturelle Ge­dächtnis von Kirchenräumen zu entschlüsseln« (62). Cebulj be­greift dabei Kirchenräume als öffentliche Lernorte. Eine solche adressatensensible Entschlüsselung des sakralen Raumes ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, auch weil sich der aura-tische Kirchenraum, das »Gasthaus Gottes« (80), wie es Christoph Sigrist in seinem Aufsatz bezeichnet, nicht von selbst entschlüsselt. Denn ob die Gäste Präsenz, Resonanz und Transzendenz im Kirchenraum tatsächlich »spüren […], erleben […] und erfahren« (ebd.), wie der Autor postuliert, ist mehr als fraglich. Hier führen nicht zuletzt empirische Untersuchung wie die nachfolgende weiter, die in der Lage sind, die Perspektive der Gäste und ihre Erwartungen einzufangen. In ihrer empirisch-quantitativen Studie kommen Ulrich Riegel und Konstantin Lindner (96–106) zu dem etwas er­nüchternden, aber treffenden Schluss, dass die religiöse Dimension für Dombesuchende deutscher Städte von eher »untergeordneter Bedeutung« (100) ist. Der Spirituelle Tourismus scheint ein mehrdimensionales, standortabhängiges Phänomen zu sein, das noch deutlich ausgeschärft werden muss.
Unter »Forschende stellen Fragen« (155–232), wie der letzte Abschnitt betitelt ist, wird das Verhältnis zwischen Kirche und Tourismus reflektiert. Mit viel Gewinn gelesen werden kann der informative, tourismuswissenschaftliche Aufsatz von Barbara Haller Rupf (157–183) zu aktuellen Tourismustrends. Thomas Schlag greift in seinem Beitrag (184–196) die von Haller Rupf aufgezeigten Trends auf und fragt, wie Kirche denn zukunftsfähig im Tourismus agieren könne. Schlag sieht für Kirche als touristische Anbieterin noch eine »grundsätzliche Sensibilisierungsaufgabe« (193) sowie eine Professionalisierung kirchlicher Angebote mit Blick auf die Bedürfnisse der Gäste, insbesondere der »religiösen Flaneure« (190), die den sakralen Raum vornehmlich aus nicht-religiösen Motiven aufsuchen. Christan Cebulj geht im Fazit einen Schritt weiter, indem er auch nichtsakrale Reiseziele und Aufenthaltsorte, wie Kreuzfahrten, »Hotels, Ferienwohnungen und Airbnbs« (227) – und damit den Tourismus insgesamt – zu Aufgabenfeldern kirchlich-theologischer Arbeit erklärt. Eine herausfordernde und lohnende Aufgabe zugleich.
Insgesamt liegt ein gelungener Band mit verschiedenen Textsorten vor, der religiöse Reiseziele deutlich als (bildungs-)diakonisches Handlungsfeld für die (Praktische) Theologie ausweist und insbesondere kirchlichen Verantwortlichen die Richtung weist. Wer einen bestärkenden, facettenreichen Einblick in den Spirituellen Tourismus sucht, wird hier fündig.