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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

610–611

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bertoglio, Chiara

Titel/Untertitel:

Musical Scores and the Eternal Present. Theology, Time, and Tolkien.

Verlag:

Eugene: Wipf & Stock (Pickwick Publications) 2021. 192 S. Kart. US$ 26,00. ISBN 9781725295025.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Chiara Bertoglio – Konzertpianistin, Musikwissenschaftlerin und katholische Theologin – hat nach ihrem umfangreichen Werk über Musik im 16. Jh., das von stupender interdisziplinärer Materialkenntnis und -beherrschung zeugt (Reforming Music. Music and the religious reformations of the sixteenth century, Berlin: de Gruyter 2017), in diesem kleinen Buch, auch hier nicht ohne erhellende historische Durchsichten, ein systematisches Thema aufgegriffen, welches ein spekulatives Format besitzt, nämlich das Verhältnis von Zeit und Raum in der Spannung von aufgeführter und notierter Musik. Der Sachverhalt selbst ist klar, die Probleme, die sich stellen, sind verzwickt.
Aufgeführte Musik erstreckt sich in der Zeit. Dabei taucht das uns allen bekannte Phänomen auf, dass wir im Moment des mitlaufenden Hörens ein Bewusstsein der soeben vergangenen Klänge zurückbehalten – wie auch einen Erwartungshorizont aufbauen für das, was kommt. Für den aufführenden Künstler, insbesondere für den auswendig vortragenden Solisten, stellt sich ein analoges Problem: ganz auf den Augenblick konzentriert, geht er aus der verklungenen Klangwelt in die künftigen Klänge hinein, die ihm auf eigentümliche Weise vorab bewusst sind, auch wenn sie noch nicht in die Präsenz seiner Ausführung eingegangen sind. Diese Struktur, von Edmund Husserl meisterhaft als Retention und Protention beschrieben, gewinnt nun aber eine zusätzliche Dimension, wenn man die Repräsentanz der gespielten Musik in der Notation mit in den Blick nimmt. Nicht umsonst ist die Frage der Nota-tion in der Geschichte der Komposition ein Thema gewesen – und scheint es in der Gegenwart abermals zu werden. Denn es wird in der Partitur, also im Medium des Raumes, das Gesamte eines Stückes zugleich vorgelegt. Wer sich als ausführender Künstler der für sein Instrument geschriebenen Stimme oder als geübter Musikwissenschaftler mit der gesamten Partitur beschäftigt, sieht »auf einen Blick« mehr, als »nacheinander« zu hören ist. Die spekulative Pointe in diesem Verhältnis besteht darin, dass es für die Zeitstruktur des Aufführens und Hörens einerseits und des Betrachtens und Lesens keine höhere Einheit gibt, in der beide zusammengefügt wären. Untersuchungen zur Wahrnehmungs- und Verarbeitungs struktur von Musizierenden bewegen sich darum auch stets in einem fluiden Hin und Her. B.s These zu diesem Sachverhalt lautet, dass es gerade dieses Fehlen einer schlichten Synthese ist, welches auf das Phänomen von »eternal presence«, also auf ein Be­wusstsein der Teilhabe am Göttlichen, verweist (so in konzentrierter Zusammenfassung 81). Auf dem Weg zu diesem Ergebnis hat sie historische Befunde und systematische Ordnungen zum Problem der Notation und ihrer Rückübersetzung in aufgeführte und ge­hörte Musik erörtert, worauf hier nur verwiesen werden kann.
Wie ist nun mit diesem Ergebnis umzugehen? Was bedeutet es, sich in dieser »nichtsynthetischen Welt« der Musik zu bewegen? An dieser Stelle kommen, als Teil II des Buches, B.s theologische Erwägungen zum Zuge. Für einen Leser, der mit Tolkiens Fantasy-Literatur unvertraut ist (die gibt es immer noch …), stellt ihr Umweg über diesen englischen Autor des 20. Jh.s eine Erschwerung dar. Immerhin lassen sich die mythopoetischen Erfindungen des Ox­forder Sprachwissenschaftlers in seinem Schöpfungsepos »Ainulindale« einigermaßen umstandslos als Adaptionen jüdisch-christ-licher Traditionen entziffern; wesentlich – und für B. aus schlaggebend – ist der Sachverhalt, dass der Rhythmus von »Schöpfung und Fall« hier musikalisch ausgedeutet wird. Dass dabei Harmonie und Dissonanz mit Schöpfung und Fall assoziiert werden, mag erstaunen. Naheliegend ist freilich die Auflösung, dass es um die Eingliederung des Dissonanten in eine bereicherte Harmonie zu tun ist, um die umfassende Gestalt der Musik zu realisieren. Die spekulative Hinführung zu der Unmöglichkeit einer menschlichen Raum-Zeit-Synthese wird hier so aufgenommen und verwertet, dass es die – sich in dieser offenen Dialektik bewegende – Musik selbst ist, in der das Phänomen der »ewigen Gegenwart« seinen Vollzug findet. Dass sich die Musik als gelingendes Kunstwerk durchhält, ihren Weg durch Verirrungen und Abwege nimmt und gleichwohl ein kohärentes Ganzes bildet – das ist nichts anderes als die akute Durchführung eines nichtsynthetischen Zusammenhangs. Anders gesagt: Dem Verweis auf die asynthetische Verfassung von Klang und Noten folgt die Einweisung in die rechte musikalische Praxis als dem Wahrnehmen dieser überbegrifflichen Einheit der »eternal presence« (hierzu zusammenfassend 163).
Allerdings ist die Konnotation von Schöpfung und Fall mit Harmonie und Dissonanz nicht unproblematisch – und keinesfalls naheliegend. Denn B.s Musikverständnis scheint auf eine Auflösung von Spannungen hinauszulaufen; darin erweist sie sich als konsequent katholische Theologin. Man könnte durchaus auch Harmonie und Dissonanz, beide, der Schöpfung zuordnen – und die Sünde als Nötigung zum Verstummen verstehen. Das würde nicht mit Tolkien übereinstimmen, aber diese Dissonanz wäre auszuhalten. Allerdings ist B. dann am Ende doch alles andere als naiv oder harmonieverliebt, wenn sie auf den so unwahrscheinlichen wie regelmäßig sich ereignenden Sachverhalt hinweist, dass M usik schließlich »gelingt«. Das gilt ihr als »aesthetic theodicy« (163). Die beiden Nachworte (»Quodlibet« und »Encore«, 164–174) zeigen auf anrührende Weise, wie die theologische Musikwissenschaftlerin die ganze Kraft ihrer Überlegungen der musikalischen Praxis und der religiösen Inspiration verdankt – und ohne beide kann man vermutlich den nichtsynthetischen Ort der Musik, der ihre Qualität als Ereignis von »eternal presence« ausmacht, weder einnehmen noch genießen.