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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

598–600

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Falque, Emmanuel

Titel/Untertitel:

Den Rubikon überschreiten. Philosophie und Theologie: Ein Versuch über ihre Grenzen. Eingel. u. übers. v. M. Kneer.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2020. 201 S. Geb. EUR 46,00. ISBN 9783402246597.

Rezensent:

Christina M. Gschwandtner

Emmanuel Falque ist einer der leitenden Philosophen und Theo-logen der jüngeren Generation in Frankreich in der Tradition Ri­cœurs, Henrys und Marions. In diesem, mehr populär orientierten, Buch, kompetent übersetzt von M. Kneer, lädt er Leser ein, den Rubikon zwischen Philosophie und Theologie zu überschreiten und die Disziplinen durch gegenseitigen Dialog — von beiden Seiten des »Ufers« — zu bereichern. »Je mehr man Theologie treibt, desto besser philosophiert man«, wiederholt er mehrmals (53.157. 176.185–87). Teils Reflektion über bzw. Rechtfertigung des eigenen philosophischen Vorgehens, verbindet das Buch eine durchschneidende Analyse der extrem produktiven französischen Phänomenologie der letzten Jahrzehnte mit methodologischen Einsichten.
Im ersten Teil entwickelt F. eine eucharistische »katholische Hermeneutik« des Leibes und der Stimme, die er einer »evangelischen« Hermeneutik des Texts (Ricœur) und einer »jüdischen Hermeneutik« des Wortes (Lévinas) gegenüberstellt (obwohl fraglich ist, ob Lévinas’ Philosophie so einfach in eine Hermeneutik hin-eingezwängt werden kann). Gegen Heidegger (Ruf des Gewissens), Derrida (Schrift) und Chrétien (»nackte Stimme«) spricht F. von einer »rohen Stimme« und einem »ausgestreckten Leib« (92–93), verwurzelt in eucharistischer Liturgie. Es ist löblich, dass F. die Hermeneutik ernst nimmt, im Gegensatz zu Henry, Marion und La-coste, die sie entweder völlig ignorieren oder lapidar abtun. Es ist auch positiv, dass hier mehr Schwerpunkt auf Inkarnation und Liturgie gelegt wird; wir befinden uns nicht in Marions mystischem Schlaraffenland oder Lacostes eschatologischem Wolkenkuckucksheim. Doch bleiben viele Fragen offen: Was ist eine Hermeneutik des Leibes? Wie »bedeutet« der Leib? Können wir so schnell eine »Abkürzung« nehmen und Ricœurs »langen Weg« verlassen? Wird hier die Hermeneutik von der Phänomenologie überschwemmt?
In Teil 2 plädiert F. für einen ursprünglich menschlichen Glauben, der dem spezifisch »konfessionellen« Glauben immer vorauszusetzen sei. Man glaubt besser »konfessionell«, »wenn man zu­nächst menschlich glaubt« (46). Der »religiöse Glaube« müsse sich einem »Urglauben« an die Welt aufpropfen (109). In Anlehnung an Heidegger spricht F. von einer Phänomenologie der religösen Erfahrung, die er von der Religionsphänomenologie Ottos und Eliades unterscheidet. Andere Religionen werden jedoch nicht er­wähnt. Wiederholt betont F. Endlichkeit als Anfangspunkt aller Philosophie und Theologie, aber diese angeblich »menschliche« Endlichkeit ist stark katholisch eingefärbt; Christus dient als Paradigma des »bloßen Menschseins« (134). Das ist keine Phänomenologie religiöser Erfahrung, sondern eine Phänomenologie katholischen Glaubens. Eine solch katholische Erfahrung verdient es sicher, phänomenologisch ausgelegt zu werden. Aber diese regionale Phänomenologie müsste deutlicher vom rein Menschlichen unterschieden werden.
In Teil 3 schlägt F. eine »Ziegelung« oder »Überdeckung« der Philosophie durch die Theologie vor, die sie »konvertieren« (50) könne: »Man bleibt also Philosoph und akzeptiert von Seiten der Theologie a priori, dass sie uns verändern kann, auch wenn der philosophische Ausgangspunkt natürlich in einem gemeinhin von allen ge­teilten Menschsein immer verankert bleibt.« (155) F. beschreibt dies mehrmals als eine Phänomenologie der »eigenen« Erfahrung, die andere nicht nachvollziehen können (142). Wie in anderen Werken ist dies eine pikante Mischung von Autobiographie und Universalphilosophie, die alle gegenwärtigen Strömungen der französischen Philosophie (inkl. Merleau-Ponty, Marion, Chrétien, Romano usw.) zu vereinen sucht. Anderseits hat F. sicher recht, dass Philosophie oft Themen aus anderen Bereichen aufgreift und die Theologie davon nicht ausgeschlossen bleiben muss (175). Auch haben Theologen lange von philosophischen Gedanken und Methoden Ge­brauch gemacht; Phänomenologie öffnet hier neue Möglichkeiten. Die französische Phänomenologie hat dafür ein reichhaltiges An­gebot, das besonders katholischer Theologie frische Ansätze bieten kann. Dies Buch ist ein Testament dieser Fruchtbarkeit.
Jedoch hat man hier manchmal den Eindruck völliger Überrumpelung. Hat das Theologische die Philosophie hier so kolonisiert oder konvertiert, dass allgemeines Menschsein oder die Rolle der Religionen in der Gegenwart nicht mehr wirklich untersucht werden können? Es mag sein, dass eine reine Religionsphänomenologie unmöglich ist, dass religiöse Phänomene immer schon konfessionell angegangen werden müssen, aber dann kann man nicht gleichzeitig behaupten, philosophisch rein »menschlich« zu denken. Religionsphilosophie, die nicht in der Theologie aufgeht, sondern es möglich macht, die Rolle der Religionen in der Gesellschaft und in globalen Krisenherden zu verstehen, ist bitter nötig. Phänomenologie als philosophische Analyse der Erfahrung ist dafür besonders geeignet. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir philosophisch das Mittelmeer und den Atlantik überqueren oder den Ganges besuchen, statt uns mit europäischen Nebenflüsschen zu begnügen.