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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

592–594

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Söchtig, Sabrina

Titel/Untertitel:

Absolute Wahrheit und Religion. Der Wahrheitsbegriff des frühen Tillich und seine Beurteilung außerchristlicher Religionen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XII, 488 S. = Tillich Research, 19. Geb. EUR 104,95. ISBN 9783110671551.

Rezensent:

Philipp David

Die fast 500 Seiten starke Studie von Sabrina Söchtig wurde im November 2018 vom Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel als Promotionsleistung angenommen. Für deren Veröffentlichung wurde neuere Forschungsliteratur hinzugefügt (478–482), die Gliederung (IX–XI) geringfügig überarbeitet und ein Sachregister (483–487; ein Namensregister fehlt) ergänzt. Die Untersuchung spiegelt einerseits das zu beobachtende rege Forschungsinteresse am frühen Tillich und an einer werkchronologischen Deutung wider (5–20) und setzt andererseits bemerkenswerte eigene und neue Akzente, die sich von bisherigen Beiträgen zur Tillich-Forschung unterscheiden.
Angeregt, betreut und begutachtet wurde die Dissertation von Tom Kleffmann. Das Zweitgutachten verfasste Stefan Dienstbeck (jetzt Straßburg), der zur Zeit der Fertigstellung der Abhandlung eine Professurvertretung in Kassel wahrgenommen und selbst mit seiner Münchener Dissertation (2010; erschienen 2011, nicht »2001« vgl. 7, Anm. 16; 24, Anm. 16; 480) einen Beitrag zur Genese und Interpretation der Systembildung Tillichs vorgelegt hat (vgl. ThLZ 138 [2013], 200–202).
In der Auseinandersetzung mit Dienstbeck ist eine Unterscheidung zum bisherigen Forschungsdiskurs auszumachen: S. grenzt sich von dessen variabler Deutung der Religionsphilosophie (»Be­liebigkeitsfaktor«, 449) klar ab (besonders 24 f.104.112 f.449), denn für sie ist Tillichs korrelatives System insgesamt, also nicht nur die Theologie, sondern auch die Religionsphilosophie, durch ein normatives christologisches Apriori bestimmt; die Religionsphilosophie sei demnach »eine Art Kryptotheologie« (444). Das Grundanliegen und »Novum« ihrer Arbeit, die so eine »Forschungslücke« (7) zu schließen versucht, bestünde demnach darin, »den christlichen Wahrheitsanspruch vom religionsphilosophischen und theologischen Standpunkt aus in Bezug zu außerchristlichen Religionen zu setzen« (22, kursiv von mir). Zu dieser komplexen und korrelati-ven Beziehungsstruktur gehört auch die Erarbeitung einer »Reli-gionstypologie« (208–301), also die religionsphilosophische Entfaltung der Religionsgeschichte, der Tillich eine hohe Relevanz zu­misst, und die standortgebundene Beurteilung außerchristlicher Religionen sowie die Darstellung der Idealreligion (Religion des Paradox) und der Christologie (7).
Dass die Christologie »das strukturierende Zentrum des Tillich’schen Systems und damit den übergeordneten Rahmen von Religionsphilosophie und Theologie« (444) bildet, ist die »Kernthese« (12) der Arbeit, aus der fünf weitere Thesen und Forschungsfragen ausfließen (12–16), die sich neben dem genannten Korrelationsverhältnis in der Frage nach einem Systemwandel und im religionstheologischen Beitrag Tillichs bündeln lassen. In den beiden Hauptteilen (27–439) werden diese Aspekte bearbeitet, um dann abschließend überprüft und beantwortet zu werden (443–458). So durchleuchtet S. nach der Einführung (Teil I: 3–26) als eine von drei Hauptquellen ausführlich, seinen Denkprozess und seine Ver flechtungen verlangsamend, Tillichs Berliner Religionsphilosophie-Vorlesung von 1920 – unter Hinzunahme seines Lehrbuchbeitrags Religionsphilosophie von 1925 (GW 1, 295–364; MW 4, 117–170) – als »religionsphilosophische Begründung des christlichen Wahrheitsanspruchs« (Teil II: 29–314), die 2001 posthum (EN 12, 333–576) veröffentlicht und bislang nicht ausführlich untersucht worden ist. Allein mit dieser detaillierten Rekonstruktion der frühen Berliner Religionsphilosophie-Vorlesung und ihrer Auswertung gelingt ihr ein eigenständiger Forschungsbeitrag.
Als korrelierendes theologisches Pendant (Teil III: Die theologische Begründung des christlichen Wahrheitsanspruchs, 323–432) wird die 1925 bis 1927 gehaltene Dresdner Dogmatik-Vorlesung (EN 14) unter fünf Frageaspekten (324) herangezogen, so dass Konturen eines umfassenden Bildes des Systemdenkens Tillichs in den 1920er Jahren aufscheinen. Hilfreich ordnend sind die »Bestandsaufnahmen« am Schluss dieser beiden Teile (315–319.433–439), die aber noch keine abschließende Ergebnissicherung und Beantwortung der Forschungsfragen dokumentieren. S. möchte mit diesen beiden Teilen herausarbeiten, dass Tillichs »gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit […] von einem normativ ausgerichteten Prinzip ge­prägt« (137.448 f.) sei. Um das zu unterstreichen, schlägt sie vor, die normativ geprägte Religionsphilosophie als »negative Theologie« (oder »Negativitätstheologie«) zu bezeichnen, um die »Dominanz der Theologie« herauszustellen (451 f.). Die Pointe sei aber, dass in seinem System aufgrund der korrelativen Grundfigur keine der beiden Disziplinen allein eine ausreichende Begründung für Tillichs Wahrheitsverständnis liefern könne (449).
Nach den Erlebnissen des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Erschütterung der »idealistischen Seite« (437, Anm. 5) seines Denkens war Tillich »der erste Theologe, ›der […] den Impuls zur sinntheoretischen Entfaltung des Religionsbegriff innerhalb der Theologie gab […]‹« (97; mit U. Barth). Die Funktion des Sinnbegriffs (97–126) bestehe in der Präzisierung des Zusammenhangs vom religiösen Prinzip und Religion als Verwirklichungskategorie, wodurch die polare Struktur des Religionsbegriffs in Richtung auf einen unbedingten Sinn überwunden sei (98). Zwar bilde das Absolute nicht mehr den Ausgangspunkt des Systems (mit C. Danz, 99.125 f.), aber die Sinntheorie stellt sich für S. (gegen C. Danz, 99.125 f.) nicht als »echte[r] Neuansatz« (100, Anm. 283) der prinzipientheoretischen Voraussetzungen der Systemkonzeption dar. Aus der Integration des Zweifels, der Sinn- und der Symboltheorie gehe nur eine Präzisierung der Systemkonzeption Tillichs hervor, die mit der Fo­kussierung auf einen anderen Systempart, den »subjektiven, wahrheitserkennenden Part«, keine sachliche Neuerung gegenüber der Systematischen Theologie von 1913 und dem vorübergehenden Prinzipienwechsel darstelle, wie er im Briefwechsel mit E. Hirsch Niederschlag findet; sie führe »lediglich zu einer formalen Neubestimmung« (436; und äußerst knapp zusammenfassend: 459).
Bleibt die Frage nach dem »interreligiösen und religionstheologischen Ertrag« (460–473), dem Hauptanliegen der Studie. Tillichs in­klusivistische Position, auch hier sei von keinem »Sinneswandel« (22) in Tillichs Denken auszugehen, lehnt »andere, divergierende Wahrheitsansprüche« nicht ab, sondern vermag sie in den eigenen Standpunkt, der »in der Geschichte erfahrbar, exklusiv und qualitativ unüberbietbar formuliert wird«, »als Teil der eigenen Religionsgeschichte« aufzunehmen; auch sie, wie die christliche Religion selbst (!), befänden sich in einer »Dynamik hin zur Idealreligion« (462), die eschatologisch gedacht ist (464). Damit gehört auch das Christentum zur »Vorbereitungsperiode« (466 f.). Hier wird die Stärke der verhandelten Verzahnung von Religionsphilosophie und Theologie und der übergeordneten christozentrischen Perspektive deutlich, die S. in der »Durchbrechung beidseitig gefestigter Haltungen und Voreingenommenheit zwischen möglichen Dialogpartnern im interrel igiösen Austausch« (463) sowie in der Offenheit und metatheore-tischen Reflexion Tillichs sieht, mit der auch ein religiöser Plura-lismus der Beliebigkeit zurückzuweisen sei. Aus der Mitte des Christentums eine Haltung interreligiöser Toleranz zu begründen, die den eigenen Wahrheitsanspruch nicht aufgibt (469), ist bleibende Aufgabe der Religionstheologie. Ob Tillichs Systemkonzeption und auch die Konzepte des »mutualen Inklusivismus«, als dessen »Vorläufer und Wegbereitung« (472) sie hier verstanden werden, im Grunde doch nur einen »höflichen Exklusivismus« darstellen, ist zu­mindest eine Frage wert, die auch dem Anliegen der Arbeit entspricht: »das Denken zu entschleunigen«, »neu und anders akzentuiert zu denken« (6) und »weiter zu forschen« (473).