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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

589–592

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dirigl, Stefan

Titel/Untertitel:

John Fishers Auseinandersetzung mit Martin Luthers Kritik an der Willensfreiheit. Kultur- und theologiegeschichtliche Studien zum 36. Artikel der Assertionis Lutheranae Confutatio mit Edition, Übersetzung und ausführlichem Kommentar.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2021. XIV, 569 S. = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 176. Geb. EUR 74,00. ISBN 9783402116135.

Rezensent:

Martin Ohst

Allen zwischenzeitlichen Um- und Aufbrüchen zum Trotz bezeugen die Universitäten von Cambridge und Oxford in vielen Einzelzügen ihrer institutionellen Gestalt noch heute die Symbiose von Krone/Parlament und hierarchischer Kirche, die für das spätmittelalterliche England charakteristisch war: Unter der quasi-notariellen Legitimation durch den Heiligen Stuhl wurden höhere geistliche Stellen als Kronlehen vergeben, und so bildete der höhere Klerus, in dem auch und gerade jungen Männern von bürgerlicher Herkunft Wege des steilen sozialen Aufstiegs offenstanden, gleichzeitig die politische Führungsreserve des Reiches. Deren Glieder wurden an den Universitäten gebildet und blieben diesen dann als großzügige Förderer zugewandt, wenn sie in Amt und Würden kamen.
Geradezu mustergültig repräsentierte diesen Typus des Klerikers John Fisher (geb. 1469), als Bischof von Rochester zugleich Seelsorger der Mutter Heinrichs VII. Seine Heimatuniversität Cambridge förderte er als Kanzler großzügig, und Heinrich VIII. diente er auch in politischen Missionen. Die vom Kontinent auf die Insel dringenden humanistischen Anregungen rezipierte er selbst in­tensiv und beförderte ihre Wirkung in die Breite und Tiefe. Die seelsorgerliche Verantwortung für seine Diözese nahm er außergewöhnlich ernst.
All das prädisponierte ihn für eine führende Rolle im Abwehrkampf, als die reformatorischen Impulse aus Deutschland auf Handelswegen über London nach England eindrangen. Fisher gehörte maßgeblich zu der Gruppe von Akteuren, die unter der Ägide des politisch ehrgeizigen, als papstkirchlicher Laientheologe agierenden Heinrich VIII. in geradezu mustergültiger Weise die durch den päpstlichen Bann gegen Luther geforderten Maßnahmen in die Tat umsetzten.
Im Mai 1521 legte er mit einer offiziösen Predigt am St. Paul’s Cross in London anlässlich der Verbrennung reformatorischer Schriften mit dem höchsten Grad an Öffentlichkeitswirksamkeit die Leitlinien im staatlich-kirchlichen Kampf gegen die Reformation dar. Während Thomas Morus dem König in dessen publizistischem Zweikampf mit dem Wittenberger Reformator sekundierte, griff Fisher den Reformator an einer anderen Front an: Er beantwortete Luthers lateinische Schrift gegen die päpstliche Bann(an­drohungs)bulle, die Assertio omnium articulorum, mit einer um­fänglichen Gegenschrift, der Assertionis Lutheranae Confutatio, die zu Anfang des Jahres 1523 in Antwerpen erschien und in der Folgezeit an unterschiedlichen Orten Kontinentaleuropas ungewöhnlich häufig nachgedruckt wurde. Fisher hat Luthers Text in ganz kurzen, jeweils nur wenige Zeilen umfassenden Abschnitten nachgedruckt und diese dann je für sich traktiert – immer bemüht, im Text des Gegners auch Wahrheitsmomente zu finden, d. h. solche Wortverbindungen und Gedanken, die der von ihm selbst als unumstößlich sicher vorausgesetzten Wahrheit zu entsprechen schienen. Das macht die Lektüre, auch wegen unendlicher Wiederholungen, anstrengend, und Fishers Gesamtbild von Luthers Ar­gumentation muss man sich in mühsamer Such- und Konstruk-tionsarbeit selber herstellen. Aber die positive Kehrseite dieses Be­fundes ist keinesfalls zu unterschätzen: Der redliche Fisher will auch den als Häretiker verurteilten Gegner wirklich zu Wort kommen lassen und hütet sich, ihm etwas zu unterstellen, was er nicht geschrieben hat. Seine kategorialen Leitlinien hat Fisher im Eingangsteil des Werks konzentriert dargelegt: Es handelt sich um die schlechterdings unauflösliche Einheit von Bibel und rechtgläubiger kirchlicher Auslegung, die dem aneignenden Glauben vor- und aufgegeben ist. Die Vertretung dieser Wahrheit ist die vornehmste Pflicht des Bischofsamtes, und so beruft sich Fisher für seinen Kampf gegen die lutherische Häresie auf keinen Geringeren als auf den Apostel Paulus – allerdings, modern gesagt, ganz dezidiert auf d en Paulus der Pastoralbriefe: Hat eigentlich schon mal jemand den Versuch unternommen, die unterschiedlichen »Perspectives on Paul« zu rekonstruieren, die in der ersten Hälfte des 16. Jh.s widereinander ins Feld geführt worden sind?
In seiner Dissertation (Klassische Philologie/Latinistik, Universität Eichstätt) hat Stefan Dirigl eine Teiledition dieses seit dem 16. Jh. nicht mehr gedruckten Buches erarbeitet; ausgewählt hat er dafür sehr geschickt den 36. Artikel, welcher die Kontroversfrage nach der menschlichen Willensfreiheit und ihrer Mitwirkung bei der Erlösung traktiert. D. hat den lateinischen Text nach dem Erstdruck – ein Manuskript ist nicht erhalten – transkribiert und weitere unterschiedliche Drucke kollationiert. In mühseliger Kleinarbeit hat er die patristischen Zitate verifiziert und druckt sie nach der jeweils heute gültigen Edition ab; Bibelstellen, auf die Fisher verweist, gibt er in der Vulgata-Fassung wieder. Jeweils auf der gegenüberliegenden Seite bietet er sodann eine deutsche Übersetzung des Texts – ›schön‹ ist sie sicher nicht, aber sie ist, soweit ich nach ausführlichen Stichproben zu sehen vermag, wirklich zuverlässig. Der Edition und Übersetzung (215–421) ist dann noch ein Kommentar beigefügt, der sich an den offenbar ganz mechanisch gebildeten durchgezählten Abschnitten des Originaltexts orientiert (423–503); dieser nimmt die Ergebnisse der einleitenden Kapitel auf, die D. seiner Edition vorangestellt hat. Hier rekapituliert er zunächst Fishers Lebensgang in seinen unterschiedlichen Bezügen (13–47). Dann stellt er, immer geschickt rückgebunden auf sein Leitinteresse an Fisher, den Renaissance-Humanismus und seine Stellungnahmen zur Frage nach der menschlichen Willensfreiheit vor: Hervorzuheben ist hier besonders das renaissancehumanistische Interesse an der griechischen Patristik (Origenes!), das auch Fisher verkörperte. Wenn Pico della Mirandola den Menschen als »Former und Bildner seiner selbst« (55) in Anspruch nimmt, dann ist es kaum möglich, nicht an Luther zu denken, der seinerseits in seiner Römerbrief-Vorlesung Gottes souverän-schöpferisches Handeln am Menschen als einen Bildungsprozess beschreibt, dem der Mensch allerdings in seinem Streben nach Selbstbildung nach Kräften entgegenarbeitet. Von hier aus vermag es dann nicht restlos zu überzeugen, wenn D. in seinem folgenden Kapitel über »Martin Luther und die Willensfreiheit« dessen Denken in Orientierung an O. H. Pesch und V. Leppin tendenziell auf seine an-thropologische Hemisphäre reduziert und es im Kontrast zum spätscholastisch-humanistischen »optimistisch« leitmotivisch als »pessimistisch« charakterisiert. Auch die Einschätzung, gerade die reformatorische Lehre konstruiere ein Konkurrenzverhältnis von Gott und Mensch, vermag nicht zu überzeugen – setzt nicht, um­gekehrt, gerade die scholastisch-humanistische Position mit ihren Abgrenzungen und ihrem Austarieren ein solches voraus?
Auf sicherem Boden bewegt er sich dann wieder in seinem Überblick über Fishers Tätigkeit als Kontroverstheologe, besonders lesenswert sind die Abschnitte über Fishers Augustin-Rezeption in diesem Zusammenhang. Dass zeitlich die Humanisten Hiero-nymus zu ihrem eigentlichen Lieblings-Heiligen erkoren, hätte vielleicht noch etwas deutlicher betont werden können. Charakteristisch und interessant bleibt jedenfalls, mit welcher Entdeckerfreude sich Fisher auch als antireformatorischer Polemiker Tertullians bediente, dessen Werke eben erst durch eine Gesamtausgabe wieder zuverlässig greifbar geworden waren (120 f.): Es waren dessen Ausführungen über das Deutungsmonopol der rechtgläubigen Kirche auf die Bibel, die Fisher ausschrieb, um Luther seine wichtigste argumentative Waffe aus der Hand zu schlagen.
In allen diesen Ausführungen tritt Fisher dem Leser als ein umfassend gebildeter, seinen seelsorgerlichen Beruf gerade auch im Kampf gegen die seelengefährdende Irrlehre ernst nehmender Bischof entgegen, der, auf der Bildungshöhe seiner Zeit stehend und souverän aus dem humanistisch erweiterten Quellenfundus schöpfend, ein Verständnis der christlichen Religion als des von Gott errichteten Gefüges von Bedingungen und Gnadenhilfen vertritt, welches dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich für das ewige Leben zu qualifizieren, indem er seine ihm unverlierbare Freiheit betätigt – gegen einen Fundamentaleinspruch, der auf einem ganz neuartigen Gesamtbild von Gott und seinem schöpferisch-souveränen Heilshandeln beruht: Ihm gemäß ist der Mensch nicht immer schon f rei, sondern erst im Ergriffen- und Geformtwerden durch Gottes worthaftes Heilshandeln wird er befreit. Die bekannteste Episode dieser Kontroverse war bekanntlich die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus 1524/25. Und im Abschlusskapitel (505–523) verleiht D. der schon öfters geäußerten Vermutung, Erasmus sei in seinem rhetorisch so viel eleganteren Angriff auf Luther literarisch abhängig von seinem (Brief-)Freund Fisher gewesen, philologisch Nachdruck.
Erasmus beschloss bekanntlich sein Leben friedlich in Basel. Fisher wurde hingegen ein Opfer der Symbiose von Krone und Kirche, die er so eindrucksvoll repräsentiert hatte: Als Heinrich VIII. sie vollendete, indem er auch die letzten Bande zwischen der Ecclesia Anglicana und der Sedes Romana zerschnitt, verweigerte ihm Fisher die Gefolgschaft und ließ am 22. Juni 1535 sein Leben für die Papstkirche, die ihn 400 Jahre später für seine Loyalität zur Ehre der Altäre erhob – gemeinsam mit Thomas Morus, dem Fisher allerdings längst nicht so nahestand, wie man gewohnheitsmäßig an­nimmt (30).
D. ist für ein außergewöhnlich wertvolles, lehrreiches Buch zu danken, das die zuvor so nicht gegebene Möglichkeit eröffnet, auch im Seminar anhand eines ganz vorzüglich aufgearbeiteten Quellentexts exemplarisch einen höchst respektablen altgläubigen Geg­ner Luthers zu studieren – und das bringt für das Verständnis der reformatorischen Theologie und ihrer geschichtlichen Bedeutung allemal mehr ein, als sich in abstracto darüber zu echauffieren, ob es sich bei der Reformation nun um einen »Umbruch«, einen »Systembruch« oder, wie neuerdings gern behauptet wird, eine »Transformation« gehandelt habe.