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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

585–587

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Samerski, Stefan

Titel/Untertitel:

Alfred Bengsch. Bischof im geteilten Berlin.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 256 S. m. Abb. Geb. EUR 38,00. ISBN 9783451388200.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Im Jahr 2021 wäre der von 1961 bis zu seinem frühen Tod 1979 als Bischof der Diözese Berlin amtierende und mit dem persönlichen Erzbischoftitel und dem Kardinalshut ausgezeichnete Alfred Bengsch 100 Jahre alt geworden. Bengsch ist wohl die eindrücklichste Persönlichkeit des märkischen Katholizismus in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Er hat in seinen knapp zwei Jahrzehnten als Berliner Bischof zum einen den Weg des Katholizismus in der DDR und zum anderen die Reaktion des West-Berliner Katholizismus auf die Herausforderungen des soziokulturellen Wandels der 60er und 70er Jahre entscheidend mitbestimmt. Die Erinnerung an ihn ist noch nicht verblasst, der Abstand ist aber mittlerweile so groß, dass Bengsch zum Gegenstand kirchengeschichtlicher Forschung geworden ist. Ein wichtiges Zwischenresümee dieser bislang nicht allzu umfangreichen Forschung zieht die vom in München und Berlin lehrenden Kirchenhistoriker Stefan Samerski verfasste le­senswerte Biographie. Auf knapp 180 Seiten, die von mehr als 40 Seiten Endnoten und 20 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis (einschließlich des »Verzeichnis[ses] der Auskünfte/Interviews«) be­gleitet werden, stellt S. das Leben und vor allem das bischöfliche Wirken Bengschs vor. Das Buch ist für eine breitere Leserschaft bestimmt, was sich auch an den zahlreichen eingestreuten Fotos zeigt. Es basiert aber auf wissenschaftlicher Forschung und bringt diese durch die zusammenfassende Darstellung voran.
Wie der Titel besagt, steht Bengschs bischöfliches Wirken im Mittelpunkt: Der zweite Teil des Buchs (»Bischof in Berlin«: 49–189) macht vier Fünftel des Gesamten aus. Der vorangestellte erste Teil (»Der junge Alfred Bengsch«: 13–48) bietet eine knappe Nachzeichnung der ersten vier Lebensjahrzehnte, die sich besonders für die Prägungen interessiert, die für Bengschs Bischofszeit wichtig sind, etwa die Verwurzelung im Berliner Katholizismus, die Entwicklung einer existentiell bedeutsamen Kreuzestheologie und die durch patristische Studien abgesicherte Hinwendung zur kirchlichen Praxis. Bengsch studierte unterbrochen von mehrjährigem Kriegsdienst und Fronteinsatz Theologie, arbeitete als Kaplan im Prenzlauer Berg, wurde 1956 in München mit einer Arbeit über die Theologie des Irenäus promoviert, machte in der Folgezeit schnell Karriere und war schon 1959 – mit Ende 30 – Weihbischof seiner Heimatdiözese. Maßgeblich für diesen raschen Aufstieg war nicht nur, dass Bengsch theologisch versiert, an der kirchlichen Praxis interessiert und belastbar war und so Kardinal Döpfner in der weitläufigen Diözese zur Seite stehen konnte, sondern auch, dass er DDR-Bürger war und das kirchliche Personalreservoir durch Weltkrieg und Teilung zusammengeschmolzen war.
Zum Bischof gewählt wurde Bengsch kurz vor dem Berliner Mauerbau, ernannt kurz darauf. Seine 18-jährige Amtszeit war entscheidend durch die deutsche Teilung bestimmt, die auch seine eigene Diözese betraf: Bengsch war ganz bewusst Bischof für ganz Berlin und bemühte sich, den Katholizismus in West-Berlin und in der DDR eng zusammenzuhalten. S. gliedert die Darstellung dieser Jahre im Bischofsamt in zehn thematische Kapitel von unterschiedlicher Länge: Besonderes Interesse finden das von Bengsch mit Skepsis verfolgte zweite Vatikanische Konzil und die von Bengsch nicht in ganzem Umfang unterstützte Umsetzung von dessen Reformen (74–104), die von Bengsch kritisch gesehene vatikanische Ostpolitik unter Papst Paul VI. (104–134) und sein Agieren im wichtigen West-Berliner Teil der Diözese (155–181). Bengschs Verhältnis zur DDR und sein Umgang mit der Kirchenpolitik der SED werden ebenfalls behandelt, allerdings knapper (49–61.61–74 u. ö.). Vergleichsweise kurz fallen die Kapitel zu Bengschs innerkirchlichem Wirken als Prediger (135–139), als Unterstützer des Ordenslebens (139–145) und Förderer der Jugendarbeit (145–155) aus, ebenso die persönliche Charakteristik (181–187) und die Nacherzählung seiner »letzten Monate« (187–189).
Wie Bengschs Wirken in die Geschichte der Kirchen in der DDR einzuordnen ist, thematisiert S. nur am Rande. Er bietet ein auf die Person konzentriertes und aus ihrer Perspektive verfasstes Lebensbild, das deutlich macht, dass Bengschs Aktionsraum viel weiter war als die DDR. Aber er war eben doch die kirchliche Führungsfigur des DDR-Katholizismus, für den die 60er und 70er Jahre die ›Ära Bengsch‹ waren, wie die Forschung schon in den 1990er Jahren festgestellt hat. Von S. gar nicht behandelt wird das Verhältnis zum landeskirchlichen Protestantismus, der bis in die 60er Jahre immer noch die Konfession der Mehrheit der DDR-Bürger war und sich dem SED-Staat gegenüber anders verhielt als der römische Katholizismus. Ein solcher Seitenblick hätte die Möglichkeit geboten, die Eigenart von Bengschs Wirken und den Weg des ostdeutschen Katholizismus in den 60er und 70er Jahren besser zu konturieren.
Dass diese Biographie noch kein abschließendes Urteil über Bengschs Person und Wirken bietet, weiß S. selbst. Er verweist etwa auf die im Gang befindliche Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Aber auch an anderen Punkten könnte sich das Bild Bengschs noch verändern. So bedarf es weiterer Forschung, die den Auswirkungen von gesellschaftlichem Wertewandel und konziliarer Erneuerung auf den ostdeutschen Katholizismus nachgeht und das etwa am Beispiel des West-Berliner Katholizismus genauer untersucht. Auch Bengschs Verhältnis zum Aufbruch der kirchlichen Basis im ostdeutschen Katholizismus muss noch genauer in den Blick genommen werden.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Biographien kirchenleitender Persönlichkeiten eine geeignete Form für die Präsentation zeitgeschichtlicher Forschung sind. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s sind die Rahmenbedingungen für kirchliches Leitungs-handeln so beschaffen, dass Einzelpersonen kaum mehr Gestaltungsspielräume haben. Die in den letzten Jahren erschienenen biographischen Studien zu leitenden Geistlichen des deutschen Protestantismus und Katholizismus machen aber weiterhin den personalen Faktor stark, manchmal auch auf Kosten der angemessenen Wahrnehmung der strukturellen Gegebenheiten und Zwänge. Allerdings könnte man einwenden, dass es in der DDR entscheidend auf die handelnden Personen ankam und dass eine Kirchengeschichte in biographischer Form darum im Recht ist. In der Tat ist Alfred Bengsch ein Beispiel dafür, dass ein Einzelner etwas bewegen konnte. Die biographische Form ist dem Gegenstand darum angemessen. Die Diskussion darüber, wie viel er bewegen konnte und wie sein bischöfliches Wirken zu bewerten ist, dürfte dank der vorliegenden Biographie an Fahrt aufnehmen.