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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

584–585

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hermle, Siegfried, u. Thomas Martin Schneider [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Protestantische Impulse. Prägende Gestalten in Deutschland nach 1945.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 231 S. m. 26 Abb. = Christentum und Zeitgeschichte, 8. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783374068890.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Auf dieses unlängst erschienene Buch muss schon deshalb empfehlend hingewiesen werden, weil sein Titel nicht klar genug zu erkennen gibt, was es bietet. Würde man doch auf den ersten Blick am ehesten eine Porträtgalerie evangelischer Gottesgelehrter er­warten, die sich in der gesamtdeutschen Nachkriegszeit auf be­sondere Weise um die protestantische Theologie verdient gemacht haben. Tatsächlich aber versammeln die beiden zeitgeschichtlich bestens ausgewiesenen Herausgeber Kurzbiographien von 25 Persönlichkeiten, die »auf je individuelle Weise innovative Impulse für die Entwicklung vielfältigster Bereiche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland gegeben« (10) haben, um »die Vielfalt protestantischer Einstellungen und Handlungsoptionen sowie die Mannigfaltigkeit der Handlungsfelder exemplarisch abzubilden« (11).
Unter den herangezogenen Protagonisten finden sich immerhin fünf Theologinnen und Theologen, die allerdings durchweg nicht im wissenschaftlich-akademischen Kontext, sondern auf verschiedenen gesellschaftlich-praktischen Aktionsfeldern wirkmächtig hervortraten (Christian Führer, Hermann Kunst, Elisabeth Moltmann-Wendel, Martin Niemöller, Dorothee Sölle). Ihre Zahl wird signifikant übertroffen von insgesamt neun Hauptfiguren aus den Bereichen der deutschen Bundes-, Landes- und Sozialpolitik (Eugen Gerstenmaier, Hildegard Hamm-Brücher, Regine Hildebrandt, Reinhard Höppner, Helmut Schmidt, Brigitte Schröder, Elisabeth Schwarzhaupt, Herbert Wehner, Richard von Weizsäcker); auf dem Cover sind sogar sechs von acht Personalbildern mit politischen Akteurinnen und Akteuren besetzt. Hinzu treten drei Juristen (Lothar Kreyssig, Helmut Simon, Reinold von Thadden-Trieglaff), zwei Wissenschaftler (Georg Picht, Carl Friedrich von Weizsäcker), zwei Schriftsteller (Peter Härtling, Hanns Dieter Hüsch) und der als Kirchenarchitekt stilprägende Schneisen schlagende Otto Bartning.
Der Einschätzung der Herausgeber, über die von ihnen getroffene Auswahl könnten die Rezipienten »sicher unterschiedlicher Meinung sein« (11), möchte man unbedingt beipflichten. So mag es vielleicht, durchaus in gutem Sinn, überraschen, dass die Reihe der hier aufgerufenen protestantischen Impulsgeber durch den Unternehmer Heinz-Horst Deichmann, den Gewerkschaftler Heinz Oskar Vetter sowie den Soziologen und politischen Aktivisten Rudi Dutschke vervollständigt wird.
Die durchweg bestens informierten, kundig abwägenden, je­weils etwa acht Seiten umfassenden, mit einem Porträtbild und Literaturhinweisen versehenen Darstellungen gewähren tiefenscharfe Einsichten in die einzelnen Personal- und Handlungsprofile, die allemal von deutlichen protestantischen Basisimpulsen geprägt sind und die in der Zusammenschau »einen faszinierenden Blick in die Vielfalt und Prägnanz protestantischer Wirksamkeit im geteilten und wiedervereinigten Deutschland der Nachkriegszeit« (12) freilegen.
Ein ausführliches Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (214–218) ist beigefügt. Das umfangreiche Personenregister (222–231) bietet den Bildungsspaziergängen in diesem verdienstvollen protestantischen Kaleidoskop hilfreiche Wegleitung an. Dabei mögen sich mitunter auch gewisse nostalgische Empfindungen einstellen, da die vorgeführten öffentlichen Akteurinnen und Ak­teure allesamt schon verstorben sind und man mit den Herausgebern (vgl. 12) füglich bezweifeln kann, dass die kommenden Jahrzehnte ein vergleichbares Arsenal an prägsam wirkenden protes-tantischen Persönlichkeiten hervorbringen werden.