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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

580–581

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Grégoire de Nysse

Titel/Untertitel:

Trois oraisons funèbres (Mélèce, Flacilla, Pulchérie). Texte grec d’A. Spira (GNO IX). Sur les enfants morts prématurément. Texte grec de H. Hörner (GNO III.2). Introduction, traduction et notes par P. Maraval.

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf 2019. 211 S. = Sources chrétiennes, 606. Kart. EUR 29,00. ISBN 9782204133562.

Rezensent:

Heinrich Holze

Den dogmatischen, katechetischen und pastoralen Schriften Gregors, die in den Sources Chrétiennes bereits veröffentlicht wurden, treten mit der vorliegenden Edition vier kürzere Schriften zur Seite, die im letzten Lebensjahrzehnt Gregors entstanden sind. Sie werden durch ein gemeinsames Thema zusammengehalten, die Erfahrung des Todes und seine Deutung in christlicher Sicht. Gregor wendet sich in ihnen in seelsorgerlicher und tröstender Absicht an die trauernde Gemeinde, indem er ihr nicht nur nach dem Vorbild antiker Grabrede das tugendhafte Leben der Verstorbenen vorstellt, sondern durch Verweise auf biblische Gestalten und theologische Erwägungen den Zusammenhang zum christlichen Glau ben herstellt. Seine Adressaten sind Angehörige der römischen Oberschicht, unter ihnen auch Kaiser Theodosius, in dessen Um­feld die Todesfälle geschehen sind.
In der ersten Grabrede erinnert Gregor an den 381 verstorbenen langjährigen Patriarchen von Antiochien, Meletios, der in den trinitarischen Auseinandersetzungen nach anfänglichem Schwanken die Position der Neunizäner und damit der Orthodoxie kraftvoll vertrat und auf dem Konzil von Konstantinopel schließlich zum Sieg führte. Die zweite Grabrede erinnert an Aelia Flaccilla, die Ehefrau von Kaiser Theodosius, die auf einer Reise durch Thrakien verstorben ist. Gregor verbindet die Trauer über ihren überraschenden Tod mit tröstenden Gedanken, die Flacilla als Vorbild einer christlichen Herrscherin zeigen. Die dritte Grabrede trägt einen mehr persönlichen Charakter. Sie ist der im Alter von sechs Jahren verstorbenen Pulcheria gewidmet, dem jüngsten Kind von Kaiser Theodosius und seiner Frau Flacilla. Von den bisher genannten Schriften, die eine seelsorgerliche Ausrichtung erkennen lassen, unterscheidet sich der vierte Text, der grundsätzliche Erwägungen zum Thema Tod und Vollendung entfaltet. Darin behandelt Gregor die Frage eines gewissen Hiérios, wie »über vorzeitig verstor-bene Kinder« zu denken sei. Bei dem Adressaten handelt es sich vermutlich um einen hohen römischen Beamten, den die Frage um­trieb, warum böse Menschen oftmals alt werden, während Unschuldige früh sterben müssen, wie also das Schicksal der Un­schuldigen zu verstehen sei. Gregor lehnt einen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen ab und entfaltet stattdessen die Vorstellung, dass der Mensch zur kontemplativen Verehrung des Schöpfers berufen sei und in der Reinheit des Herzens zur Vollendung finde. Er erörtert diese Gedanken nach den Regeln der antiken Rhetorik und unterstreicht damit seine philosophische Bildung, verschweigt aber nicht seine christlichen Überzeugungen, wenngleich diese nur in wenigen Bibelzitaten anklingen.
Die Herausgeberschaft der Schriften liegt bei Pierre Maraval, dem im März 2021 verstorbenen langjährigen Ordinarius für Religionsgeschichte an der Universität Paris IV-Sorbonne. Maraval hat durch seine zahlreichen gelehrten Untersuchungen zu einem besseren Verständnis der christlichen Antike beigetragen und nicht zuletzt durch seine Editionen in den Sources Chrétiennes den Grundstein für ihre weitere Erforschung gelegt. Von ihm stammt auch die Einführung zu der vorliegenden Edition sowie die sorgfältige Übersetzung der vier Schriften. Der kritische Text ist aus den Gregorii Nysseni Opera übernommen worden: die Grabreden aus GNO IX (hg. von Andreas Spira) und der Traktat aus GNO III,2 (hg. von Hadwiga Hörner).