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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

572–575

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Yoon, David I.

Titel/Untertitel:

A Discourse Analysis of Galatians and the New Perspective on Paul.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2019. XIV, 312 S. = Linguistic Biblical Studies, 17. Geb. EUR 174,00. ISBN 9789004394452.

Rezensent:

Dieter Sänger

Gegenwärtig steht der Gal mehr denn je im Fokus der Paulusforschung. Davon zeugt u. a. die mit dem Aufkommen der »New Perspective on Paul« wieder neu aufgebrochene Debatte, ob und inwieweit sich das theologische Profil der judaistischen Kontrahenten des Apostels, näherhin ihre dem Gesetz zugeschriebene Heilsbedeutung in das soteriologische System des zeitgenössischen Judentums einordnen lässt. Das in ihm vorausgesetzte Szenario – die völkerchristlichen Galater stehen im Begriff, dem Drängen der Fremdmissionare nachzugeben und die Beschneidung zu übernehmen (5,2 f.; 6,12 f.), als Proselyten auch die Speisegebote und den jüdischen Festkalender einzuhalten (vgl. 2,11–14; 4,10) – erhellt den Problemhorizont des Briefs. Strittig ist, welche theologische Frontstellung er zu erkennen gibt.
Folgt man der lutherisch geprägten Auslegungstradition der »Old Perspective on Paul«, hat seine grundlegende These, dass allein der Christusglaube rechtfertigt und die »Werke des Gesetzes« soteriologisch irrelevant sind (2,16), eine antilegalistische Stoßrichtung. Betont anders die »New Perspective«, ihr argumentatives Gegenüber: Der Gal bekämpft keine legalistische Werkgerechtigkeit, sondern ist konfrontiert mit einer Soteriologie im Sinne des »Bundesnomismus«, der die Religionsstruktur des »common Ju­daism« (Ed P. Sanders) zur Zeit des Zweiten Tempels kennzeichne. In der vorliegenden Studie, einer revidierten Fassung seiner PhD Dissertation (McMaster Divinity College, 2018), versucht David I. Yoon im Rückgriff auf das sprachtheoretische Konzept der Diskursanalyse und speziell der Systemic Functional Linguistics (SFL) die Fragen zu klären, »what the context of situation was in Paul’s letter to the Galatians and whether it reflects more closely the legalism or the covenantal nomism« (32).
Entsprechend ihrer Zielsetzung ist die Arbeit in zwei Haupt-teile gegliedert, einen primär theoretischen (1–136) und einen textanalytischen (137–262). Beigefügt sind drei Anhänge mit jeweils einer tabellarischen Auflistung der zuvor unter verschiedenen Aspekten (semantische, strukturelle, funktionale) analysierten »primary clauses« (263–289). Als vorgeschaltete Problemanzeige markiert Y. eingangs die positionellen Differenzen in der von der »New Perspective« ausgelösten Diskussion über die mit ihrem Namen sich verbindende Neubewertung der Rechtfertigungslehre im Gesamt der paulinischen Theologie (1–32), orientiert anschließend über die unterschiedlichen, oft parallel laufenden methodischen Verfahrensweisen der Diskursanalyse (33–65), und geht dann ausführlich (66–136) auf die von ihm angewandte Methodik der SFL, insbesondere das linguistische Konzept des »Registers« ein. Mit dem Begriff ist gemeint, dass die spezifische Form sprachlicher Äußerungen, seien es mündliche oder schriftliche, Aufschluss gibt über eine bestimmte, in ihr sich spiegelnde Kommunikationssituation und die Varianz der ihre distinkten Merkmale sprachlich abbildende Rede- und Schreibweise abhängig ist vom sozialen Kontext, »the speaker or writer is in« (78). Gerade für antike Texte wie den Gal halte das Modell ein Arsenal robuster und heuristischer Instrumente bereit, »to construct or discover the context of situation of that text through a more specific contextual configuration« (135).
Im 2. Hauptteil sondiert Y. die drei Komponenten des Registers field, tenor, and mode (80) unter textanalytischen Gesichtspunkten. Gefragt wird danach, worum es in dem Diskurs geht (field), wer und in welcher sozialen Rolle an ihm beteiligt ist, wie das jeweilige Anliegen vorgetragen wird (tenor) und wie er stattfindet (mode). Zunächst wendet sich Y. dem im Gal zutage tretenden Sprachmodus zu (139–190), der sich auf die Struktur, Textur und Organisation des Diskurses beziehe. Zum einen reflektiere er die in einem Text erscheinende Wortwahl, die Art und Weise seiner Präsentation im Blick auf die Adressierten sowie die in ihr erkennbare Organisation von Wörtern in einzelnen Sätzen und Satzperioden, zum anderen die innere Kohärenz der verwendeten Lexeme mit den durch sie zur Sprache gebrachten Konzepten und Sachverhalten. Auf der Basis seiner Analyse ergibt sich für Y. die folgende Gliederung des Gal: An den Briefeingang (1,1–5) schließt sich das von 1,6–5,12 reichende, in drei Hauptabschnitte unterteilte Briefcorpus an. Ohne die übliche Danksagung benennt 1,6–12 den Anlass des Schreibens, 1,13–2,21 referiert auf die Situation des Briefs, 3,1–5,12 entfaltet in mehreren Schritten die zentralen Argumente seiner theologischen Beweiskette. Es folgt ein paränetischer Teil (5,13–6,10), der wiederum segmentiert ist (5,13–26; 6,1–6.7–10) und zum Briefschluss (6,11–18) überleitet. Aufs Ganze gesehen unterscheidet sich das Analyseergebnis kaum von den meisten der bisher vorgelegten Gliederungen. Dass der methodisch höchst komplexe linguistische Interpretationsansatz sie größtenteils bestätigt, unterstreicht seine exegetische Leistungsfähigkeit. Allerdings führt er in diesem Fall über schon Bekanntes nicht hinaus.
Zielt die Analyse des Sprachmodus darauf ab, »the way in which the writer structures the text in terms of thematic elements« (191) zu ermitteln, hat die »Field Analysis of Galatians« (191–225) es sich zur Aufgabe gemacht, »the conceptual elements of the text« (191), d. h. seine theologischen Propria, zu identifizieren. Summiert man den Ertrag der zunächst auf »primary clauses« beschränkten Analyse (192–212), erscheint ihr Mehrwert eher gering. Sowohl die Auskunft, konzeptionell relevante Grundbestandteile wie das Gesetz, die Abrahamverheißung, Erbschaft, Sklaverei, Freiheit und Be­schneidung durchzögen den ganzen Brief und seien »central to the body of the letter«, als auch die Feststellung, »the law [sei] a major subject of Galatians« (207), sind für sich genommen und im Blick auf die alternative Option, ob er »reflects more closely the legalism or the covenantal nomism«, nur bedingt aussagekräftig. Die bei Paulus erstmals im Gal (2,16; 3,2.5.10) begegnende und von »alter« und »neuer« Paulusperspektive gegenläufig interpretierte Nominalverbindung »Werke des Gesetzes« hat Y. noch ausgespart. Im Nachgang analysiert er komplementär zu den übrigen »concep-tual elements«, bei denen »the issue of justification is background material« (207), die lexikalische und kasuelle Semantik des Syntagmas ἔργα νόμου im Kontext der theologischen Argumentation des Briefs (212–225). Der analytische Befund zeigt, dass es aufgrund seiner Zusammenstellung mit δικαιόω (und Verwandten) und seiner Opposition zu πίστις ([Ἰησοῦ] Χριστοῦ) »refers to human doings of the law to obtain justification before God, in contrast with faith, which actually brings this justification« (225). Demnach fungieren die ἔργα νόμου nicht bloß als identity markers bzw. boundary markers, mit denen Israel seinen Unterschied zu anderen Völkern zur Anschauung bringt, sondern vielmehr als theologischer Gegenentwurf zu der von Paulus allein an den Glauben gebundenen Rechtfertigung. Das heißt zugleich, »for one to be justified, they must replace ›works of the law‹ with ›faith (in Christ)‹« (ebd.).
Die noch ausstehende »Tenor Analysis of Galatians« (226–257), ein dritter Bereich der SFL, ergänzt und stützt das Ergebnis der »Field Analysis«. Am Diskurs beteiligt sind Paulus, die adressierten Gemeinden und, jedoch nicht permanent, seine anonym bleibenden Kontrahenten. Ihre in den Text eingeschriebenen sozialen Rollen wechseln. Die neunmalige Anrede ἀδελφοί denotiert das ge­schwisterliche Verhältnis zwischen Paulus und den Galatern, das metaphorische »meine Kinder« (4,19) seine väterliche Autorität, aber auch ihre enge Beziehung zueinander. Hingegen ist die vorwurfsvollen Anrede »unverständige Galater« (3,1) Ausdruck seiner Frustration über ihre Abwendung von seinem Evangelium hin zu einem in Wahrheit nicht existenten anderen (1,6 f.). Im Vergleich zur Autorität seiner Kontrahenten in der Briefsituation hat seine an Überzeugungskraft verloren. Paulus kehrt die Rollen um und ergreift die Offensive. Er nutzt das wirkungsästhetische Potential inventarisierter Formen polemischer Sprache, um die seinen ju-daistischen Kontrahenten zugeschriebene Autorität und ihre zen trale Forderung an die Gemeinden – Übernahme der Beschneidung– zu delegitimieren. Der Tenor des Briefs verweist auf den Ernst und die Brisanz der Lage in Galatien. Weil durch die Aufwertung des No­mos zu einer heilsrelevanten Größe der exklusive Charakter des Christusglaubens verneint wird, steht für Paulus nicht weniger als das Evangelium selbst auf dem Spiel. Deshalb ge­braucht er »the strongest language he could utilize in order to persuade the Galatians back to the true gospel« (257). Und dieser scharfe Ton des Gal, so das Fazit, »reflects more of an Old Perspective reading rather than a New Perspective reading« (256).
Die Lektüre der theorielastigen, mit sprachwissenschaftlichen und diskursanalytischen Fachtermini gespickten Arbeit verlangt Geduld und ein Fremdwörterbuch. Zahlreiche Tabellen, graphische Darstellungen und Schaubilder hemmen den Lesefluss; bei manchen ist nur schwer zu erkennen, worin ihr eigentlicher Nutzwert liegt. Des Öfteren holt Y. weit aus und referiert zum Teil ausführlich konzeptionell vergleichbare methodische Herangehensweisen, um ihnen am Ende zu bescheinigen, sie seien »not relevant in analyzing an ancient, written text« (77, vgl. 50.52.84.86.96 u. ö.). Hier wäre weniger mehr gewesen. Das sind freilich Quisquilien gemessen an der hohen Qualität der in sich stimmigen, vorgebrachte Argumente auf ihre Validität kritisch prüfenden und um Differenzierung bedachten Arbeit. Obgleich sie in materieller Hinsicht nichts wesentlich Neues bietet, ist ihr Ertrag für die Paulusforschung zweifellos ein Gewinn. Y. klinkt sich mit einem wachen Gespür für noch Unerledigtes in die exegetisch wie hermeneutisch mit Vorurteilsstrukturen behaftete kontroverstheologische Diskussion über Recht und Grenze der »New Perspective on Paul« ein. Faktisch entzieht er dem von ihr neu justierten Koordinatengefüge der paulinischen Rechtfertigungslehre durch seine methodisch reflektierte linguistische Analyse des Gal die Plausibilitätsbasis. Während sich die Vertreter der »Old Perspective« bestätigt fühlen dürfen, wird der Einspruch ihrer Antipoden vermutlich nicht allzu lange auf sich warten lassen. Vielleicht ohne dies von vornherein ins Kalkül zu ziehen, hätte Y. damit eine weitere Runde im Streit um das sachgemäße Verständnis des Pauli Theologiae Proprium eingeläutet. Aber das ist es ja, was eine innovationsträchtige Dissertation von einer weniger guten unterscheidet: ihre stimulierende Wirkung auf die Forschung. Dafür gebührt Y. Dank und Anerkennung.