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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

568–570

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oakes, Peter

Titel/Untertitel:

Empire, Economics, and the New Testament. Forword by B. W. Longenecker.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 237 S. Geb. US$ 55,00. ISBN 9780802873262.

Rezensent:

Lukas Bormann

Peter Oakes ist seit 2020 Rylands Professor of Biblical Criticism and Exegesis an der Universität Manchester. Dieser traditionsreiche Lehrstuhl geht auf die Familie des zur Blütezeit des britischen Empires reichsten Textilfabrikanten Englands John Rylands (1801–1888) zurück. Seine Frau aus dritter Ehe, Enriqueta Augustina (1843–1908), begründete nach dessen Tod mehrere bedeutende Stiftungen u. a. auch die John Rylands Library, die den ebenfalls nach dem Stifter benannten wohl ältesten neutestamentlichen Papyrus (P52) beherbergt und öffentlich ausstellt. Es steht demnach einem Rylands Professor gut an, Fragen zu behandeln, die Ökonomie und Neues Testament zueinander in Beziehung setzen.
Der Vf. verweist allerdings nicht auf diesen Zusammenhang als Motivation für seinen Forschungsansatz, sondern auf sein Ingenieursstudium, in dem er den Umgang mit Modellbildungen und Simulationen zur Analyse von Wechselwirkungen und Prozessen erlernt hat (IX). Der Vf. beschreitet nicht den für die historische Forschung üblichen Weg von der quellenbasierten Evidenz zur Interpretation eines singulären Sachverhalts, er fragt vielmehr danach, ob bestimmte vorgegebene typische Rahmenbedingungen des Le­bens in der römischen Welt und die aus den neutestamentlichen Quellen entnommenen Vorstellungen zu Modellen geformt werden können, die plausibel zusammenpassen und zum Verstehen der ersten Gemeinden und ihrer Überzeugungen angewendet werden können.
Seit seiner Promotion (Philippians: From people to letter, 2001) berücksichtigt der Vf. dabei besonders die ökonomischen und sozialen Verhältnisse. International bekannt ist auch sein Buch »Reading Romans in Pompeji« aus dem Jahr 2007. Bei seinen Arbeiten zu Pompeji kann er auf die Ergebnisse seines Kollegen Roger Ling, Professor für Klassische Kunstgeschichte und Archäologie in Manchester, zurückgreifen, der bedeutende Arbeiten zur insula des Menander in Pompeji (regio I, insula 10) vorgelegt hat. Auf der Basis der vorfindlichen Gebäudestrukturen vertritt der Vf. u. a. die These, die ersten Gemeinden hätten sich nicht in römischen Villen, sondern in Handwerkeranwesen, die über Wohn- und Geschäftsräume sowie Gärten und Lager mit halböffentlichem Charakter verfügten, versammelt. Der Einfluss von Ökonomie und Imperium wirke auf die in den ersten Gemeinden versammelten Menschen unmittelbarer und zugleich viel komplexer ein, als es etwa die stereotype Darstellung der Hausgemeinde in der Apostelgeschichte oder die reziproken statusgruppenbezogenen ethischen Forderungen der Haustafeln (z. B. Kol 3,18–4,1) erwarten lassen.
Die zehn Beiträge sind in drei Sektionen geordnet: I. House church, II. Economics, III. Empire. Im ersten Beitrag, »A house-church account of economics and empire« (3–30), wird zunächst modellhaft eine Gemeinde mit Mitgliedern aus verschiedenen sozialen Schichten vom Hausbesitzer bis zum Sklaven vorgestellt. Diese Personen seien eher arm, marginalisiert und gefährdeten ihren sozialen Status zusätzlich durch die Zugehörigkeit zur christlichen Hausgemeinde. Dieses Risiko würden sie in Aussagen thematisieren wie der zum Besitzverzicht (Lk 14,33), zum Essen in der eigenen Wohnung (1Kor 11,34), zum Gehorsam gegenüber dem Staat (Röm 13,1–7), zur Steuer (Mk 12,17) und zum Imperium (Offb 17,16–18). Es wird nun erläutert, wie die verschiedenen Statusgruppen in den Gemeinden die genannten neutestamentlichen Texte verstanden haben müssen. Das Ergebnis fasst er so zusammen (28): Die Zugehörigkeit zur Hausgemeinde brachte zusätzliche politische und ökonomische Risiken mit sich, auf die sehr unterschied lich, aber doch typisch für die soziale Stellung, reagiert wurde. Aus den unterschiedlichen Konstellationen von Abhängigkeit und Nonkonformismus erkläre sich die große Spannweite der ethischen Texte des Neuen Testaments, die von radikalen bis zu affirmativen Forderungen reiche.
Im zweiten Beitrag, »Nine types of church in nine types of space in the insula of Menander« (31–62), werden neun verschiedene Raumkonstellationen für Hauskirchen diskutiert, die von der Villa über die Gartenanlage, den kleinen Laden, das schon genannte Handwerkeranwesen bis zum Haus eines Verwalters reichen (31–62). Zu jedem Raumtyp ordnet der Vf. eine bestimmte soziale Konstellation der sie nutzenden Hausgemeinde zu, reflektiert die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen ihrer ca. 8–40 Mitglieder und zieht Schlussfolgerungen auf die religiöse Weltsicht, die hinter den in dieser Hinsicht aussagekräftigen neutestamentlichen Texten steht. In der vom Vf. priorisierten Handwer-keranwesen-Hauskirche (55–57) versammeln sich ein Pächter des Anwesens als Gastgeber, eine Gruppe von Hausbesitzern aus der näheren Umgebung mit ihren Familien und Sklaven, einige Menschen aus Haushalten, deren Vorstände nicht der Hausgemeinde angehören und die sich personenrechtlich nach Freigeborenen, Freigelassenen und Sklaven unterscheiden, sowie schließlich einige Obdachlose. Diese ca. 40 Mitglieder der Hausgemeinde organisieren sich eher egalitär als hierarchisch, da auch der Gastgeber weder Besitzer des Anwesens noch Mitglied der Elite von Pompeji ist. Im Ergebnis wird festgehalten, dass die Raumkonstellationen bedeutenden Einfluss auf die Beziehungen innerhalb der Hausgemeinde hätten. Ohne dies noch näher zu erläutern, schließt dieser Beitrag mit dem Hinweis, dass sich die ersten Gemeinden in Raumkonstellationen und Sozialstrukturen der »non-elite«, d. h. der Un­terschicht, in einer größeren Vielfalt als bisher angenommen entwickelt hätten (60 f.).
Die Beiträge im Abschnitt II »Economy« befassen sich mit drei Möglichkeiten, antike Wirtschaftsverhältnisse auf neutestamentliche Texte und deren Welt zu beziehen (65–90 und 91–108), mit der Übertragung des Klientelwesens (patronage-model) auf die Sozialbeziehungen der Gemeinde, wie sie in 1Kor 11,17–34 zu erkennen sind (109–122), und mit der Bedeutung antiker Lebenserfahrungen für die Rezeption paulinischer Briefe am Beispiel von Phil 1,1–11 (123–139). Im Abschnitt III, »Empire« (135–193), werden in vier kurzen Beiträgen ebenfalls verschiedene Möglichkeiten der Sichtweisen römischer Macht in den ersten Gemeinden reflektiert. Der Vf. vermeidet es, von einer anti-imperialen Rhetorik zu sprechen, sieht aber im Neuen Testament insgesamt eine christologische und eschatologische Neuordnung des Weltbildes ( remapping), in dessen Zentrum nicht mehr »Rom«, sondern Christus steht (154).
Der Sammelband bietet in den beiden oben etwas ausführlicher referierten Beiträgen Grundlagen und weiterführende Einsichten, deren Lektüre jedem zu empfehlen ist, der sich über die soziale und ökonomische Welt der Gemeinden des 1. Jh.s informieren möchte. Die übrigen Beiträge stellen jeweils ein reflektiertes Spektrum von Interpretationsmöglichkeiten vor, die der Begrenztheit von Ressourcen (economy) und der Härte der politischen Welt (empire) angemessene Aufmerksamkeit widmen und so dem genius loci von Manchester eine ehrende Referenz erweisen. Namen-, Sach- und Quellenregister runden den gelungenen Band ab.