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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

555–557

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Böhler, Dieter

Titel/Untertitel:

Psalmen 1–50.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 960 S. = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 150,00. ISBN 9783451268250.

Rezensent:

Peter Riede

Lange ist er erwartet worden, der erste Teilband der Psalmenauslegung in der Reihe Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, der die Auslegungen der früh verstorbenen Psalmenspezialisten Erich Zenger († 2010) und Frank-Lothar Hossfeld († 2015) 13 Jahre nach Erscheinen des letzten, von beiden verantworteten Bandes abschließt. Dass den bisherigen Auslegungen der Psalmen 51–100 (erschienen 2000) bzw. 101–150 (erschienen 2008) jeweils nur knappe Einleitungen beigegeben waren (jeweils eine Skizze zur Entstehung von Ps 51–100 bzw. 101–150), hatte durchaus seinen Grund, der auch den Beginn der Kommentierung mit Ps 51 rechtfertigte. F.-L. Hossfeld und E. Zenger schrieben dazu 2000: »Im Band 1–50 erwartet man zu Recht ›die Einleitung‹ in das ganze Psalmenbuch. Da wir den Psalter nicht wie andere Kommentatoren als bloße ›Abstellkammer‹ von Einzelpsalmen betrachten, sondern als eine zwar sukzessiv gewachsene, aber gleichwohl kompositionell strukturierte Größe, deren Gestalt dem Einzelpsalm eine zusätzliche Bedeutungsdimension gibt, kann diese ›Einleitung‹ sinnvollerweise erst geschrieben werden, wenn wir alle Einzelpsalmen analysiert haben.« (Psalmen 51–100, 10) Bislang war man für eine Gesamtschau auf die ebenfalls von F.-L. Hossfeld und E. Zenger verantwortete Psalmenkommentierung in der Reihe »Die neue Echter Bibel. Altes Testament« (Band 1: 1993) angewiesen.
Umso gespannter ist nun der Blick auf die neue Kommentierung von Dieter Böhler gerichtet. Wie wird er das eben skizzierte Programm einlösen? Und wie kann die Anknüpfung an das Hossfeld/Zengersche Opus magnum gelingen?
Wie auch bei anderen Bänden der Reihe Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament steht zu Beginn ein ausführliches Literaturverzeichnis (13–24). Dem folgt die Einleitung (25–64), in der auf jeweils wenigen Seiten Informationen u. a. zum Psalter, zur Poesie, zum Aufbau und zur Entstehung des Psalmbuches, zu Teilsammlungen, zur Redaktion, zu Teilkompositionen, Psalmenüberschriften, Komposition, Gattungen und Nachwirkungen in Judentum und Christentum bereitgestellt werden. Die Hinweise zur Theologie des Psalters umfassen weniger als zwei Seiten. Mit insgesamt ca. 40 Seiten ist die Einleitung zu diesem groß(artig)en und für die Theologie des Alten Testaments wichtigen Buch um­fangmäßig geringer als die zu Obadja, dem mit 21 Versen kleinsten Buch des Alten Testaments, die Heinz-Josef Fabry (2018) in seinem in derselben Reihe erschienenen Kommentar auf über 60 Seiten entfaltet. Entsprechend fehlen gewichtige Hinweise zur Religionsgeschichte und zur Bildsprache der Psalmen, zum sogenannten »Stimmungsumschwung«, zur Schöpfungs- und Zionstheologie, zu dem Königtum, den Gottesvorstellungen, der Anthropologie, zum Tempel, den Tempelsängern etc. Die Feindproblematik und das Problem der sogenannten »Fluch- und Rachepsalmen« (vgl. da­zu B. Janowski, 2019, 129 ff.) werden nur knapp gestreift (eine Seite).
Das verwundert und enttäuscht zugleich, auch wenn die Ursache in dem jetzt schon großen Umfang des Bandes liegen dürfte (B. könnte sicher viel zu den genannten Themen beitragen), gibt es doch nach intensiver und fruchtbarer Arbeit an den Psalmen aus den unterschiedlichsten Forschungsrichtungen gerade aus den letzten 40 Jahren einiges mehr für Wissenschaft und (!) Praxis festzuhalten, was für künftige Forscherinnen und Forscher eine profunde Basis und zugleich Herausforderung für die Weiterarbeit darstellen könnte. Man kann daher den jetzt in der Nachfolge Erich Zengers verantwortlichen Herausgebern der Kommentarreihe und dem Verlag Herder nur dringend anraten, das, was hier zur Einleitung in den Psalter angeführt wurde, in einem eigenen, im Umfang den Bänden I–III des Kommentars entsprechenden Band zu vertiefen, so wie es beispielsweise Hans-Joachim Kraus 1979 in der Reihe »Biblischer Kommentar zum Alten Testament« mit seiner »Theo-logie der Psalmen« (BK XV/3) getan hat. Hier wäre auch der Ort, das von Hossfeld/Zenger entwickelte Programm zur Psalmenforschung intensiver vorzustellen und zu diskutieren. Ein solcher vierter Psalmenband mit der »›Einleitung‹ in den Gesamtpsalter (Aufbau, Entstehung, Theologie, Einordnung in die Hymnen- und Gebetsliteratur der Umwelt Israels)« entspräche im Übrigen der ursprünglichen Planung von F.-L. Hossfeld und E. Zenger (vgl. Dies., Psalmen 101–150, 10), die offensichtlich aufgegeben wurde, schreibt B. doch im Vorwort, dass mit dem vorliegenden Band ihrer beider Psalmenkommentar »endlich vervollständigt« (11) wird.
In der informationsreichen Auslegung der Einzelpsalmen, die auch Bildmaterial aus der Umwelt Israels heranzieht, folgt B. im Wesentlichen dem bewährten Programm der Reihe und den Bänden II und III des Psalmenkommentars. Erfreulich sind vor allem die Hinweise zur Nachgeschichte, gibt es hier doch neben den Informationen zur Septuaginta und zum Neuen Testament auch Ausführungen, die man so nicht oft findet, z. B. zur Exegese der »Väter« oder zur katholischen Messliturgie bzw. zur Nachwirkung in der evangelischen Tradition, wie sie sich in Psalmnachdichtungen und -vertonungen niedergeschlagen hat. Sie werden jeweils durch ein kleines Resümee zur Bedeutung des jeweiligen Psalms abgeschlossen.
Zugleich verschiebt B. die Akzente der Auslegung und legt den Schwerpunkt auf die »Interpretation des einzelnen Gedichts« (63). Das ist keine Generalabkehr vom Hossfeld/Zengerschen Programm »Von der Psalmenexegese zur Psalterexegese« (vgl. E. Zenger, BiKi 56 [2001], 8–15), aber doch eine andere Herangehensweise: Der »Versuch, das Psalterganze redaktionskritisch zu rekonstruieren, der allzu oft hypothetisch bleiben muss, tritt zurück hinter der lectio continua des Psalters, d. h. der synchronen Auslegung des Textes« (63). Das bedeutet: »Jedes Gedicht wird zuerst als in sich stehendes poetisches Werk ausgelegt, dann aber wird auch der Großtext interpretiert« (ebd.).
Dass dabei einzelne Interpretationen zur kritischen Befragung herausfordern, ist bei fast 1000 Seiten Kommentierung unausweichlich. Dafür einige eher zufällig ausgewählte Beispiele: Die Interpretation der »Hörner der Wildstiere« in Ps 22,22, die B. als »Symbol für die rettende Macht, mit der Gott eingreift« (405) ansieht, ist nach V. 13 wenig wahrscheinlich. Eher liegt ein Bild der Bedrohung vor, zumal die Bilder aus V. 13 f.17 in V. 22 f. chiastisch wiederaufgenommen werden, wie B. (399) selbst festhält. Die im Anschluss an K. Kremser, 2019 vorgenommene Klassifizierung von Ps 45 als Rätsellied (B., 821 f.826) »über einen König, Gott und verschiedene weibliche Figuren« (826) (statt als Eulogie auf den König bzw. das Königtum) überrascht. Auch wenn für B. die Frage nach der Gattung nicht im Zentrum seiner Ausführungen steht, bedürf te diese These m. E. doch noch weiterer Begründungen als nur durch die Hinweise auf 1Kön 10,1; Sir 47,13–17 und das Hohelied. Die Ausführungen zur Bildsprache in Ps 39,12 sind knapp und durchaus ausbaufähig. Überraschend ist die Übersetzung von Ps 16,5 (»JHWH, meine Speise- und Becherzumessung, du wirst werfen das Los für mich« [266]) statt der üblicheren (»JHWH ist der Teil meines [Land-]Anteils und meines Bechers, du bist der, der mein Los hält«, vgl. dazu K. Liess, 2004, 73). Für B. liegt hier keine Landmetaphorik vor (vgl. Liess, 2004; P. Riede, 2020), sondern JHWH »sorgt für den Unterhalt seines Verehrers, ja er ist sein Lebensmittel« (276).
Insgesamt werden die Fachwelt und darüber hinaus hoffentlich auch alle in Kirche und Schule tätigen Kolleginnen und Kollegen den neuen Kommentar von B. dankbar rezipieren, schließt er doch eine bislang schmerzhaft erfahrene Lücke im Rahmen des bedeutenden, von Erich Zenger begründeten deutschsprachigen Kommentarwerkes.